Tödlicher Applaus
Gesellschaft zu infiltrieren, und passten uns perfekt an die jeweilige Umgebung an. Auf diese Weise hat die Ost-Mafia langsam, aber sicher die Kontrolle über Unternehmen und Organisationen übernommen, die sie für ihr Netzwerk brauchte. Und an vorderster Front stehen wir, die unsichtbaren Soldaten.«
Rudis Stimme nahm plötzlich einen resignierten und väterlich-strengen Ton an. »Sie haben sich in eine ganz persönliche Abrechnung eingemischt, Tom. Das war dumm von Ihnen und außerdem sehr ungezogen. Sie haben meine privaten Briefe gesehen und in meinen Dateien herumgeschnüffelt. Aber vor allen Dingen haben Sie das Tagebuch meiner Mutter gelesen. Was soll ich jetzt mit Ihnen machen? Lassen Sie mich Ihnen wenigstens die Zusammenhänge erklären. Das wird es leichter machen, Sie zu motivieren.«
Tom stutzte. »Motivieren«? Was sollte das denn heißen?
Rudi breitete die Arme aus wie ein gut gelaunter Reiseleiter. Diese jähen Stimmungsschwankungen wirkten extrem beunruhigend auf Tom. »Nach außen hin war das hier eine wohltätige Stiftung für Waisenkinder. Vater Joachim finanzierte das Unternehmen, indem er sein Konzept an diverse Mafiabosse verkaufte. Sie setzten große Hoffnungen in das Projekt und bezuschussten das Unternehmen großzügig. Darüber hinaus verdiente Vater Joachim sich eine goldene Nase mit dem illegalen Export von Kaviar aus dem Kaspischen Meer. Über zwei Jahrzehnte lang hat er loyale Krieger ausgebildet, nicht nur hier, sondern auch in anderen Ländern. Niemand hat sich darum geschert, die tatsächlichen Verhältnisse zu überprüfen, war es doch der sanftmütige Vater Joachim, der dem Ganzen vorstand. Niemand würde Vater Joachim etwas Böses zutrauen. Aber …«
Rudi holte eine Flasche Wein und zwei Gläser. Er schenkte beide voll und hielt Tom das eine an die Lippen.
»Dies ist mein Blut«, sagte Rudi und lachte herzhaft wie über einen guten Witz. »Ich verehre Jesus, er war auch ein Outcast.«
Tom nahm einen großen Schluck. Der Wein war so sauer, dass es einem fast den Zahnschmelz wegätzte. Er mischte sich mit dem metallischen Geschmack der Wunde um seine oberen Schneidezähne.
»Vater Joachim war ein Vertreter harter Strafen. ›Wer seinen Sohn liebt, züchtigt ihn‹, war sein Motto. Und natürlich liebte er uns. Wir waren sein Kapital und die Möglichkeit, sein Netzwerk auszubauen. Erst in letzter Zeit ist mir wirklich klar geworden, wie mächtig Vater Joachim eigentlich ist.
Um meinen Bruder und mich kümmerte er sich besonders, nannte uns ›die Auserwählten‹. Er liebte biblische Bilder und Gleichnisse. Es gefiel ihm, uns als ›Gottes Lämmer, die die Sünde der Welt tragen‹ zu bezeichnen, wenn er besonders hart gegen uns vorging. Ich erinnere mich noch ganz genau. Ich war auf der Toilette gewesen und hatte ein paar Tropfen auf der Klobrille hinterlassen. Vater Joachim explodierte, als er die Toilette nach mir benutzte und merkte, dass der Sitz feucht war. Erst verprügelte er mich, dann zwang er mich, das Klo mit unverdünntem Salmiak zu reinigen. Die Dämpfe der ätzenden Flüssigkeit haben mir fast die Hornhäute weggebrannt. Ich war mehrere Tage blind, und meine Finger sahen aus wie aufgeplatzte Bockwürste. Ich war damals sieben Jahre alt.
Es ärgerte ihn maßlos, dass er meinen Bruder und mich nicht unterscheiden konnte, und wir führten ihn, zum großen Vergnügen der anderen Kinder, auch immer an der Nase herum. Eines Tages nahm Vater Joachim meine Hand und drückte sie flach auf den Küchentisch. Dann holte er ein Fleischermesser und hackte das obere Glied meines kleinen Fingers ab. Ich spüre heute noch den Schmerz. Schuld und Sühne. Vater Joachim sagte, dass Gott uns liebt, wenn wir unsere Strafe annehmen.«
Rudis Blick schweifte ab, während er unbewusst seine rechte Hand massierte. Für einen kurzen Augenblick empfand Tom fast so etwas wie Mitleid mit dem Killer, der vor ihm saß.
Abrupt drehte Rudi sich um und ging zu einem der verschlossenen Schränke, öffnete ihn und nahm ein Paar Handschellen heraus. Tom fühlte das kalte Metall um seine Handgelenke schnappen. Dann zog Rudi einen der Holzstühle heran und setzte sich vor Tom, beugte sich nach vorn und nagelte ihn mit seinem Blick fest. Der Abstand zwischen ihnen war so gering, dass Tom Rudis Rotweinatem auf der Wange spürte.
»Zu unserem achtzehnten Geburtstag übergab Vater Joachim uns das Tagebuch unserer Mutter. Er sagte, es habe in dem Korb gelegen, in dem wir im Kinderheim abgegeben
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