Tödlicher Applaus
Furcht und der totalen Hoffnungslosigkeit gab ihr Hirn nicht auf, nach einer Überlebenschance zu suchen. Sie ruckte noch einmal an ihren Fesseln. Der Schmerz schoss in die geschwollenen, aufgescheuerten Handgelenke. Denk nach, Cathrine, denk nach!, schärfte sie sich ein, zu Hause wartet dein Kind auf dich. Du darfst nicht aufgeben!
Sie wusste nicht, ob es eine Form von Lichtecho war, verursacht durch die totale Abwesenheit jeglicher Lichtquelle, aber in regelmäßigen Abständen sah sie oben in der Wand ein bläuliches Licht aufschimmern und gleich wieder verlöschen. Es erinnerte an das Leuchten eines Handydisplays.
Hatte Hans Maier in die Fugen zwischen den Steinen ein Handy eingemauert? Die Fugen zwischen den Steinen … Denk nach, Cathrine, denk nach!
Ja, die Fugen! Das war eine Möglichkeit. Sie tastete die Wand hinter sich ab: Naturstein und Zement. Strich mit den Fingern um den Stein, in dem ihre Handschellen befestigt waren, kratzte mit den Fingernägeln über den Zement. Ein Bröckchen Mörtel fiel herunter, gleichzeitig brach der Nagel ihres rechten Zeigefingers ab.
Normalerweise löste ein abgebrochener Fingernagel eine mittlere Krise bei ihr aus, aber jetzt bedeutete er Hoffnung, wenn auch nur eine winzig kleine. Die Absätze ihrer Schuhe! Cathrine war keine Anhängerin von flachen Schuhen, und die Schuhe, die sie jetzt trug, hatten Pfennigabsätze mit Stahlkern, die größeren Belastungen standhielten.
Sie verrenkte sich, bis sie endlich einen ihrer Schuhe zu fassen bekam. Mit den Fingern der anderen Hand suchte sie nach einem Bereich in der Mauer, der sich porös anfühlte, und begann, mit dem Absatz über den Mörtel zu kratzen. Ab und zu fühlte sie nach, wie tief sie gekommen war. Wenn es ihr gelang, die Fugen um den Stein, an den sie gekettet war, auszuhöhlen, konnte sie ihn vielleicht zu sich hereinziehen.
Cathrine legte eine Pause ein. Ihr Atem ging schneller, und in der dünner werdenden Luft lief ihr der Schweiß über Gesicht und Rücken. Vor ihr lag ein anstrengendes Stück Arbeit, bei dem sie mehr Sauerstoff verbrauchen würde, als wenn sie sich still verhielte. Also sollte sie einen Rhythmus finden, in dem sie effektiv arbeiten und zugleich ruhig und sparsam atmen konnte.
Lange, ruhige Atemzüge!, befahl sie sich. Und sie ermahnte sich zu innerer Ruhe, der Art Ruhe, die Langstreckenläufer nutzen, um einen Marathon durchzustehen. Ganz ruhig bleiben, minimaler Krafteinsatz für maximales Resultat!
Der Pfennigabsatz kratzte rhythmisch über den Mörtel.
Vater Joachim
Eindringliches, rhythmisches Piepsen drang an Rudis Ohr. Wie lange war er ohnmächtig gewesen? Und weshalb hatte er die Besinnung verloren? Seine wachsende Unruhe signalisierte ihm, dass etwas Schreckliches passiert war. Er drehte den Kopf in Richtung des Geräusches und blickte auf einen leuchtenden Computerbildschirm. Über den Bildschirm bewegte sich ein roter Pfeil entlang einer blau markierten Linie, die die Verbindung von der Wiener Staatsoper zu ihrem Versteck anzeigte. Rudi begriff, dass der rote Pfeil Tom Hartmanns Standort markierte und dass er offensichtlich auf dem Weg zu ihnen war.
Hans! Der Name bohrte sich wie ein Eisennagel quer durch seine Brust. Dann kam die Erinnerung wie der Schmerz nach einer Betäubung, aber tiefer und überwältigender als vor dem Vergessen. Er drehte sich langsam zu der Seite, wo Hans lag. Obgleich er ahnte, was ihn erwartete, schockierte ihn der Anblick. Die Maurerkelle ragte wie ein Warnschild aus seinem Bauch. War Hans tot?
Rudi kroch vorsichtig auf seinen Bruder zu und kniete sich neben ihn. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich grenzenlos allein. Es war erstaunlich wenig Blut aus der Wunde ausgetreten, aber Hans’ Gesichtshaut war fahl und feucht.
»Hans«, flüsterte Rudi mit einer Stimme, rau wie Sandpapier, ohne Hoffnung, dass sein Bruder ihm antworten würde. Rudis Hand zitterte unkontrolliert, als er sie ausstreckte, um Hans’ Puls zu fühlen. In diesem Augenblick piepste der GPS-Empfänger erneut. Tom Hartmann näherte sich. Als Rudi sich wieder zu seinem Bruder umdrehte, hatte der die Augen aufgeschlagen. Das Weiße war blutunterlaufen, der Blick verschleiert. »Verzeih mir, Hans, das war ein Unfall. Ich habe niemals vorgehabt, dich …«
Hans versuchte vergeblich, zu antworten. Seine Hände tasteten nach der Maurerkelle und legten sich um den Griff.
»Nein!«, rief Rudi und hielt Hans’ Hände fest. »Tu das nicht! Solange sie festsitzt, haben
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