Tödlicher Applaus
behandelnden Ärzte hatten jede Befragung untersagt, bis sein Zustand als einigermaßen stabil eingestuft werden konnte. Nachdem sich die Menschen vor der Oper, in der Annahme, es handele sich um Tom Hartmann, brutal auf ihn gestürzt hatten, war zuerst eine Gehirnblutung befürchtet worden. Als eine Dreiviertelstunde später endlich die Genehmigung kam, den Verletzten zu verhören, hatte sich schnell herausgestellt, dass der Gefasste Elmar Hilbert von der Spezialeinheit Cobra war.
Maria Kamarovs Aussage hatte das bestätigt. Sie hatte zu Protokoll gegeben, Tom Hartmann habe Hilberts Uniform angezogen. Und so hatten sich die Beamten des Sondereinsatzkommandos, die aus dem Gebäude kamen, einer nach dem anderen ausweisen müssen, doch Tom Hartmann hatte es offenbar wieder einmal geschafft. Er war ihnen entwischt.
Lochmann sah sich um. Ein Abschnitt der Kärntnerstraße war evakuiert und abgesperrt worden. Innerhalb der Sperre hatte man ein Zelt errichtet, in dem jetzt Maria Kamarov darauf wartete, dass ein Spezialist kam und herausfand, was es mit der Bombe auf sich hatte, die in die schusssichere Weste unter ihrem Kostüm eingenäht worden war. Ein Stück weiter drängten sich Journalisten und Fernsehreporter um Polizeipräsident Werner Diepold, der offenbar eifrig darum bemüht war, seine Tat zu erklären. Lochmann war überzeugt, dass Diepold sich in dem Rampenlicht sonnte, das so plötzlich auf ihn gerichtet war. In seiner Galauniform sah er wie ein Operettenheld aus. Er gestikulierte wild, fasste sich an die Stirn und sah tief getroffen in den Wald der Kameralinsen, um seinen Erläuterungen den gehörigen Nachdruck zu verleihen. Lochmann trat näher an die Szene heran und beobachtete den Polizeichef.
Werner Diepold war in seinem Element. Endlich spielte er eine tragende Rolle an der Wiener Staatsoper, und sein Auftritt wurde noch dazu bis in die hintersten Winkel der Welt live ausgestrahlt.
»Mir blieb gar keine andere Wahl, als zu schießen! Ich war der Einzige im Saal, der die Möglichkeit hatte, etwas zu unternehmen. Für mich hat es sich so dargestellt, als drücke Hartmann eine Taste seines Handys, um die Bombe zu zünden.«
Er legte eine dramatische Pause ein, reduzierte das Stimmvolumen und veränderte die Stimmlage eine Nuance, um Trauer auszudrücken. »Dass mein guter Freund Victor Kamarov von meiner Hand sterben musste, werde ich mir für den Rest meines Lebens vorwerfen, jeden Tag, jede Stunde. Warum musstest du mir genau in diesem Augenblick in die Schusslinie laufen, Victor?« Er wischte sich über die Augen. »Hättest du eine Zehntelsekunde gewartet, wäre Tom Hartmann tot, und du wärst am Leben!«
Diepold ließ den Fernsehzuschauern auf der ganzen Welt Zeit, seine Worte sacken zu lassen. Er fühlte, dass er genau den richtigen Ton getroffen hatte. So musste es sein, wenn man das hohe C perfekt traf. Er war berauscht. Wie viele Menschen sahen ihm in diesem Moment zu? Eine Milliarde vielleicht?
»Victor Kamarov lebte für die Opernkunst, für das Publikum und für seine Tochter. Die Wiener Staatsoper hat ihn zu dem Star gemacht, als der er in die Operngeschichte eingehen wird. Ich glaube, Victor Kamarov wäre glücklich, wenn er wüsste, dass er mit dem Einsatz seines Lebens mehr als zweitausend seiner geliebten Zuschauer vor einem Terroranschlag bewahrt hat.«
Werner Diepold schaute in die Runde und schraubte seine Stimme erneut auf Wagner-Niveau. »Ich schwöre, dass Tom Hartmann die Strafe bekommen wird, die er verdient. Das Gebäude wird in diesem Moment durchkämmt, und ich garantiere Ihnen …«
Oberst Wilhelm Waringer stellte sich direkt vor Diepold. »Sendepause!«, sagte er, fasste Diepold freundlich, aber bestimmt am Arm und führte ihn ein Stück beiseite.
Diepold fuchtelte mit seiner freien Hand herum und leistete mit dem ganzen Körper Widerstand. »Was erlauben Sie sich?« Weiße Spuckebläschen traten in seine Mundwinkel.
Oberst Waringer war die Ruhe in Person. »Ich erlaube mir, Ihnen einen peinlichen Rückzug zu ersparen. Tom Hartmann ist verschwunden.«
Kriminalhauptkommissar Lochmann kam ins Grübeln. Der Kontrast zwischen Diepolds Buhlerei um die Gunst seines Publikums und der Order, die er von ihm persönlich erhalten hatte, war frappierend. Diepold hatte einiges zu verbergen, und er, Lochmann, war offensichtlich dazu auserkoren, hinter ihm sauber zu machen. Hartmann musste gefunden und es musste auf jeden Fall verhindert werden, dass er irgendetwas aussagte. Denn
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