Tödlicher Applaus
unterscheiden.
»Es ist nicht deine Schuld, Katja. Du hast Medina nur einige unvergesslich schöne Minuten hier auf Erden beschert. Willst du dafür an den Pranger gestellt werden? Das würde dir nur deine Zukunft verbauen! Und hilft das der Polizei wirklich weiter? Wohl kaum. Damit bringst du die Ermittler nur auf eine falsche Fährte und hinderst sie vielleicht sogar daran, den Täter zu schnappen.« Die Tränen zeichneten schwarze Linien auf ihre Wangen, und ihre Nasenflügel wurden rot. Er legte seine Hand vorsichtig auf ihre.
»Halt mich einen Moment lang fest«, bat sie, »bis ich wieder klar denken kann.«
Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und sah ihr mitfühlend in die Augen. Ein rascher Griff um den Kopf, eine kurze, abrupte Drehung, und sie wäre von all ihren Sorgen erlöst.
»Meine Eltern glauben, ich arbeite bei einer Event-Agentur.«
»Ich werde nichts verraten.« Er versuchte, die Erleichterung in seiner Stimme zu verbergen. Ging er jetzt richtig vor, konnte er sie vielleicht sogar am Leben lassen.
»Danke«, sagte Katja schlicht.
»Fährst du mit dem Zug zurück nach Wien?«
»Ja, morgen Nachmittag.«
»Ich bleibe noch ein bisschen, es gibt noch einiges zu erledigen.«
Sie saß blass und regungslos auf dem hohen Küchenhocker. Ein verängstigtes Mädchen, das gerade Hoffnung schöpfte, die Katastrophe doch noch abzuwenden: die Enthüllung in den Medien. Die Scham und Schande für die Eltern. Die zerstörten Zukunftsaussichten.
»Was deine Website angeht …« Rudi zögerte mit Bedacht.
»Ja?«, hauchte sie.
»Ich kann dir helfen, sie zu entfernen und alle Spuren restlos zu beseitigen, dass niemand sie wiederherstellen kann. Wir können gemeinsam eine neue erstellen, wenn sich alles wieder beruhigt hat.«
»Ich weiß nicht, was ich … was ich ohne dich tun sollte.«
Rudi zuckte bescheiden mit den Schultern. »Es dauert aber eine Weile«, sagte er.
»Ich kann … ich habe schrecklichen Hunger«, sagte sie. Langsam kam wieder Farbe in ihr Gesicht. Sie wischte sich die Tränen ab, verrieb die schwarzen Linien zu einem bläulichen Schatten auf jeder Wange.
Er ging zum Kühlschrank und warf einen Blick hinein. »Kannst du Omelette machen? Mit Tomaten und Käse? Und Wein haben wir auch reichlich.«
Sie nickte.
Die Wahrheit zurechtbiegen
Er öffnete eine Flasche Rotwein und setzte sich an den Laptop. Sie briet Tomatenscheiben in Butter an und goss Rührei darüber. Die Dunstabzugshaube aus gebürstetem Edelstahl ließ lediglich den diskreten Duft südfranzösischer Kräuter zurück. Es war nahezu idyllisch.
Rudi hatte Katja im traditionsreichen Café Central getroffen, in dem im Laufe von Jahrzehnten unzählige Berühmtheiten ihre tägliche Dosis Koffein zu sich genommen hatten. Sie war ihm aufgefallen, weil sie jeden Nachmittag alleine an einem Zweiertisch saß und Zeitung las. Den hübschesten Mädchen werden nie Avancen gemacht, war ihm durch den Kopf gegangen. Nach einiger Zeit war ihm der eine oder andere ältere Herr aufgefallen, der sich ein Herz fasste und sie ansprach. Sie reagierte immer freundlich und zuvorkommend. Hin und wieder beglich einer der Herren ihre Rechnung, bevor sie untergehakt zusammen weggingen.
»Vielleicht suche ich noch immer nach meinem Mann«, hatte sie einmal gesagt, nachdem sie sich einige Wochen kannten. Rudi hatte in diesem Moment begriffen, dass sie sich die Wahrheit zurechtbog. Denn in der Zeit, in der er sie beobachtet hatte und diverse ältere Herren hatte kommen und gehen sehen, war ihm aufgefallen, dass sie sich oft mit teuren Trophäen schmückte. Einer Patek Philippe, einer Louis Vuitton.
»Ich wollte das gar nicht haben, aber er hat darauf bestanden«, sagte Katja dann immer. Sie bog sich die Wahrheit zurecht, denn manch einer würde das vielleicht Selbstprostitution nennen. Aber genau diese Seite von ihr machte sie zur perfekten Wahl für Rudis Pläne. Rudi war verantwortlich für jene Bedürfnisse Medinas, die in keinem Backstage-Rider auftauchten.
»Hast du Lust, James Medina kennenzulernen?«, hatte er Katja gefragt. Und Katja Henning hatte die Herausforderung angenommen.
Sie war eine unorthodoxe Frau. Mit zwanzig Jahren hatte sie einen fast sechzig Jahre alten Mann geheiratet. Einen Kerl mit Hängebauch und Glatze. Ihre Eltern waren außer sich gewesen, aber sie hatte hartnäckig behauptet, er sei die Liebe ihres Lebens.
Vor seinem Tod vor einigen Jahren hatte sie ihm versprochen, eine Ausbildung zu machen. Sein Wunsch war
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