Tödlicher Applaus
untrügliches Gespür dafür, im falschen Moment aufzutauchen. Man hätte meinen können, sie hätte hellseherische Fähigkeiten oder einen siebten Sinn.
Kriminalkommissarin Price wusste nicht, welche Rolle sie spielen sollte. Die eiskalte Ermittlerin oder die aufgeregte geschiedene Frau, die sich Sorgen um den Vater ihrer Tochter machte. »Wer war das?«
»Keine Ahnung«, sagte Tom, wohl wissend, dass er sie mit dieser Antwort ärgerte. Was er genoss.
»Du stehst unter Schock«, sagte sie.
»Wundert dich das?«, sagte er. Ihm fiel nichts Besseres ein.
»Das Wichtigste ist, dass du lebst.«
»Für wen?«, fragte er.
»Das war jetzt wirklich unnötig«, sagte sie. »Cecilie hat Todesängste ausgestanden und die ganze Nacht geweint.«
»Und du?« Ihm war wohl bewusst, dass das schlechter Stil war – aber extrem befriedigend. Cathrine blieb stumm, und Tom legte nach. »Warum ist sie nicht hier?«
»Matthias hat sie zur Generalprobe gefahren. Sie weiß, dass es dir den Umständen entsprechend gut geht. Ihre Ballettschule hat heute auf dem Sankthanshaugen eine Vorführung.«
Matthias! Sie wusste genau, wie sie es ihm heimzahlen konnte. Darum hatte er es auch irgendwann aufgegeben, sich mit ihr zu streiten, und sie, als sie Schluss gemacht hatte, einfach wortlos gehen lassen. »Da ist es natürlich überflüssig, seinen um ein Haar umgekommenen Vater zu besuchen. Und du? Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs? Business oder Pleasure?«, fragte er.
»Ich bin froh, dich zu sehen«, sagte sie, und er verkniff sich einen Kommentar.
»Wisst ihr schon irgendwas?«
»Wahrscheinlich ein Terroranschlag, aber bisher hat sich noch niemand dazu bekannt.«
»Warum sollten Terroristen ein Interesse daran haben, James Medina zu töten?«
Vermutungen
Cathrine zögerte einen Augenblick, als brächte sie ihr Anliegen nur ungern vor. »Ich hatte gehofft, du könntest mir ein wenig Input geben.«
»Also doch Business!«, erwiderte er enttäuscht. Seine Exfrau war abgebrüht, das wusste er. Sonst hätte sie in einer Männerbastion wie dem Morddezernat kaum Karriere machen können. Cathrine war dünn, nicht schlank. Asketisch dünn. Man hätte sie für eine Balletttänzerin halten können, die sich ausschließlich von Tee und Zitronen ernährte. Dabei wäre sie mit etwas mehr Kurven richtig schön gewesen. Braune Augen, rotbraunes Haar, fest zurückgebunden in einem Pferdeschwanz. Sie war Gustav Mahlers Frau Alma nicht unähnlich. Aber Cathrine Price besaß nicht Alma Mahlers einladendes Wesen. Und Alma hätte niemals einen schwarzen Trenchcoat getragen. Auch die Art und Weise, in der Cathrine ihre Beziehung beendet hatte, war abgebrüht gewesen. Hart, aber fair. Fern jeglicher Form des Opern-Abschieds, der so lange dauern kann, dass die Geschäftsleute in der ersten Reihe längst eingeschlafen sind. Nein, Cathrine hatte ihr Anliegen beinahe wie eine technische Analyse vorgetragen und war vor dem Hintergrund der Prognosen zu einer Entscheidung gekommen. Tom seufzte innerlich und sagte laut: »Ich glaube nicht an einen Terroranschlag. Es gibt Tausende von Menschen, die ein Motiv hätten, Medina zu töten.«
»Tausende?«
»Denk doch nur an all die Frauengeschichten. Sein Manager, Victor Kamarov, hat im Scherz mehrfach prophezeit, dass Medina eines Tages von einem eifersüchtigen Ehemann erschossen wird. Höchst plausibel, wenn du mich fragst.«
Cathrine Price machte sich Notizen auf einem Block.
Verheiratet mit dem Job, dachte Tom Hartmann. Er hatte lange nach den Gefühlen hinter Cathrines übermenschlicher Effektivität gesucht. »Und dann wären da noch all die anderen Tenöre, die jetzt natürlich im Stillen jubeln, dass ihr größter Konkurrent tot ist.«
»Er ist nicht tot«, sagte Cathrine. »Es grenzt an ein Wunder, aber er lebt noch, auch wenn sein Zustand kritisch ist. Doch er wird voraussichtlich nie wieder singen können.«
»Dann hat der Täter ja erreicht, was er wollte, vorausgesetzt, es war ein neidischer Sänger.«
Cathrine machte sich neuerlich Notizen.
»Und dann wären da noch diejenigen, die er auf seinem Weg an die Spitze niedergetrampelt hat. All die Inspizienten, Bühnentechniker, Ankleiderinnen und Maskenbildnerinnen, die er im Laufe seiner Karriere verschlissen hat. Dirigenten, die er auf offener Bühne gedemütigt und zurechtgewiesen hat. Und natürlich die, denen er Geld schuldete. Es ist kaum zu glauben, aber Medina war hoch verschuldet, trotz seiner gigantisch hohen Honorare. Bei
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