Tödlicher Applaus
ließen auf eine Auseinandersetzung zwischen Tom Hartmann und Katja Henning schließen, und es gab diverse Hinweise, dass er Panik bekommen hatte und geflüchtet war. Sein Schlüsselbund war in der Dachrinne des angrenzenden Hauses gefunden worden. Offenbar war er über das Dach und durch den Hinterhof des Nachbargebäudes geflohen. Andererseits konnte nicht ausgeschlossen werden, dass er trotzdem seinem ursprünglichen Plan gefolgt war, um so etwas wie ein Alibi vorweisen zu können.
Die Bregenzer Polizei war in Zivil angerückt. Lochmann hatte sie instruiert, das Ganze wie eine Routineuntersuchung aussehen zu lassen, im Hinblick auf eventuelle spätere Zeugenverhöre. Lochmann wusste genau, nach wem er suchte, und wollte vermeiden, den Betreffenden aufzuschrecken. Er gab sich alle Mühe, trotz seiner Angespanntheit gelassen zu wirken, denn es galt, den Mann festzusetzen, der nicht nur hinter dem Mordversuch dieses Abends stand, sondern allem Anschein nach auch für den Mord in Oslo verantwortlich war.
Lochmann ließ den Blick über die Menschenmenge schweifen und hielt Ausschau nach der Person, auf die die allgemeine Beschreibung passte, die er bekommen hatte.
Tom Hartmann versuchte, die Fassung zurückzugewinnen. Zum zweiten Mal in kürzester Zeit war er Zeuge des Mordes an einem Künstler geworden, den er seit Jahren bewunderte. Die traumatischen Erinnerungen an jenen Abend in der Oper in Bjørvika holten ihn wieder ein. Eingezwängt zwischen den anderen schockierten Zuschauern spürte er, wie ihm der Schweiß in Bächen über den Rücken lief. Der strenge Geruch menschlicher Ausdünstungen hing in der Luft. Angst, Verzweiflung, Sensationslust hatten je einen eigenen, charakteristischen Duft, der seine Empfindungen noch verstärkte. Ihm wurde übel, und er kämpfte gegen den Drang an, sich zu übergeben. Die Menge bewegte sich unerträglich langsam. Als sein Handy klingelte, nahm er das Gespräch an, noch ehe Medinas Stimme erschallte. Er wollte dem Ganzen nicht noch eine makabre Spitze aufsetzen.
»Was hast du getan?« Cathrines Stimme zitterte vor Erregung.
»Was meinst du?«
»Ich habe den ganzen Tag versucht, dich zu erreichen. Du musst dich sofort bei der Polizei melden.«
»Wovon, um alles in der Welt, redest du?«
»Sie haben die Frau aus Medinas Garderobe gefunden.«
»Warte, ich habe dich nicht richtig verstanden.«
»Sie haben die Frau gefunden, die Medina in der Pause besucht hat. Tot. In deinem Hotelzimmer.«
Tom glaubte, sein Schädel müsse explodieren. Durch seine Hirnwindungen wirbelte ein Wirrwarr irrationaler Gedankenfragmente. Er musste sich verhört haben. Aber dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: die Kontrollen am Ausgang, die Ewigkeiten in Anspruch nahmen – das war kein Routinecheck. Sie wussten, dass er hier war, und warteten nur auf ihn.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe? Wieso antwortest du nicht?« Cathrine klang wütend.
»Ich hab dich gehört«, sagte Tom, während die Gedanken wie ein Wintersturm durch seinen Kopf jagten. Katja war tot. Das konnte doch nicht wahr sein! Und er selbst war im Laufe nur eines Tages von einem Verliebten zum Hauptverdächtigen in einem Mordfall geworden.
»Sie vermuten, dass es einen Zusammenhang zwischen den Morden gibt. Sag mir, dass das nicht wahr ist, Tom!«
»Was für ein Zusammenhang?« Mein Gott, sie glaubten doch nicht etwa, dass er etwas mit dem Mord an Medina zu tun hatte? Ja, er war vor Ort gewesen, als es passiert war, so wie er auch jetzt am Tatort war. Das Attentat war ohne Zweifel von jemandem ausgeführt worden, der sich in der Opernwelt gründlich auskannte. Aber warum ausgerechnet er? Welches Motiv unterstellte man ihm? Seine Erfolglosigkeit als Kritiker? Dass er in die Musikgeschichte eingehen wollte, indem er die Größten der Großen um die Ecke brachte? Die Antwort der klassischen Musikwelt auf Mark Chapman?
»Tom, warum antwortest du nicht? Du musst dich umgehend bei der Polizei melden, verstehst du, was ich sage?«
»Ich verstehe, was du sagst. Das Ganze ist arrangiert. Von Rudi Maier. Aber das kann ich noch nicht beweisen.«
»Rudi Maier war gestern den ganzen Tag in Victor Kamarovs Büro, und da ist er jetzt auch. Er ist nicht einmal in der Nähe deines Hotelzimmers gewesen. Mach jetzt keine Dummheiten, Tom. Wenn du unschuldig bist, wird die Polizei das herausfinden.«
» Wenn ich unschuldig bin? Du glaubst doch nicht etwa, dass ich …«
»Herrgott, Tom, sag mir, was ich glauben soll! Du lügst
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