Tödlicher Applaus
es draußen angenehme 22 Grad warm war. Dazu trug er eine Sonnenbrille, einen Strohhut und ein auffällig gemustertes Hermès-Hemd über einer weißen Leinenhose.
Tom reichte ihm die Hand, aber Arpata winkte ab. »Nehmen Sie das nicht persönlich, aber meist ist diese unleidige Händeschüttelei schuld daran, wenn ein Sänger seine Stimme verliert.«
Tom zog seine Hand schuldbewusst zurück und fühlte sich, als hätte er die Beulenpest.
»Ich kann nur zehn Minuten reden. Mehr verkraften meine Stimmbänder nicht, wenn ich abends noch auftreten muss.«
Arpata sprach fast im Falsett. In dieser femininen Stimmlage feuerte er eine ganze Symphonie von Lobhudeleien auf sich selbst ab. Erst als Tom ihn fragte, was er von Medinas tragischem Tod halte, begann die Fassade zu bröckeln. Arpata wurde blass und schien Schwierigkeiten zu haben, seinen Atem zu kontrollieren. Mit einem Mal klang seine Stimme deutlich tiefer. »Politisch korrekt wäre, Medina zu huldigen und seinen Fortgang zu beweinen. Aber glauben Sie mir – und zitieren Sie das jetzt bitte nicht –, die Welt wird ohne Medina ein bisschen besser sein.«
Tom erschrak. In Arpatas Ausbruch schwang eine so hemmungslose Wut mit, die Tom dem blassen, korpulenten Mann mit dem gekünstelten Gehabe gar nicht zugetraut hätte. »Wie meinen Sie das?«, hakte er nach.
»Medina ist korrupt! Medina stiehlt Rollen! Er hat nicht nur meine gestohlen, sondern auch die von vielen anderen. Selbst wenn ein Sänger als Premierenbesetzung auf dem Spielplan stand, musste Medina nur auftauchen, und – schwups – fand er sich als Zweitbesetzung wieder.«
»Aber Francesco Arpata ist für viele doch mindestens gleichrangig mit James Medina?« Tom wusste, dass er mit dem Feuer spielte.
»Was nützt das, wenn derjenige, der Sie repräsentiert, Medina bevorzugt?«
»Victor Kamarov?«
Arpatas Oberlippe wurde feucht, und in seinen Augen funkelte abgrundtiefer Hass.
Tom ging noch einen Schritt weiter: »Haben Sie eine Idee, wer Medina umgebracht haben könnte?«
Arpata griff nach dem Wasserglas, trank einen großen Schluck, verschluckte sich und bekam einen heftigen Hustenanfall.
Tom glaubte, Angst in dem Gesichtsausdruck seines Gesprächspartners zu erkennen.
»Meine Stimme!«, hauchte dieser heiser. »Das verkraften meine Stimmbänder nicht. Ich kann nicht mehr weiterreden, ich muss zurück auf mein Zimmer und mich ausruhen.« Er rang nach Luft.
Mit einem Mal sah der Startenor wie ein kleines, verzweifeltes Kind aus. Er wickelte sich den Schal wieder um Mund und Nase, stand auf, schlang die Arme schützend um seinen Oberkörper und ging. Tom hörte ein tränenersticktes Hicksen, ehe Arpata wie ein Schoner mit Schlagseite in Richtung Fahrstuhl schlingerte.
War dieser Mann imstande, jemanden umzubringen? Tom bezweifelte das. Dennoch konnte der grenzenlose Hass, der in Arpatas Innerem brodelte, ihn durchaus dazu getrieben haben, jemanden mit dem Mord zu beauftragen. Sollte er mit diesem Verdacht zu Kamarov gehen? Und warum behandelte der seine Sänger so unterschiedlich?
Es gelang Tom nicht, sich von der fantastischen Vorstellung verzaubern zu lassen. Dabei war Arpata wirklich in Hochform. Er verkörperte den gleichen Wahn, die gleiche Intensität auf der Bühne, die Stunden zuvor aufgeblitzt waren, als er für einen Moment die Fassung verloren hatte. Tom fragte sich, ob Arpata das alles nur gespielt hatte, als eine Art Probe für die abendliche Vorstellung. Dann schob er den Gedanken beiseite, denn die Vorstellung näherte sich ihrem absoluten Höhepunkt: dem Augenblick, in dem Peter Grimes von seinem Skipper Balstrode aufgefordert wird, Selbstmord zu begehen: Come on, I’ll help you with the boat. Sail out till you lose sight of the Moot Hall. Then sink the boat. D’you hear me? Sink her. Goodbye Peter …
Der klangvolle Bariton des Walisers Peter Carr gab der Szene eine eiskalte Tiefe, wie ein Hauch aus dem Jenseits. Auf diesen Augenblick hatten alle gewartet, denn der Schluss dieser Aufführung war fulminant. Peter Grimes bestieg ein kleines Fischerboot, das hinter der Bühne am Seeufer vertäut lag. Das Bühnenbild glitt zur Seite, und während das Boot aufs Wasser hinaus in einen wirbelnden Lichtkegel ein Stück vom Ufer entfernt fuhr, strichen die Bögen der Violinen gedämpft über die gespannten Saiten. Mit einem Axthieb schlug Grimes ein Loch in das Boot, das gleich darauf zu sinken begann. Bald hüllte das Wasser Arpatas Knie ein, dann seinen Bauch. Er blieb
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