Tödlicher Applaus
seiner Brieftasche war getrocknet und stank nur noch ganz dezent nach Jauche. Pecunia non olet, dachte er amüsiert.
Kressbronn
Kressbronn schlummerte umkränzt von hohen Bäumen im Dämmerlicht. Die Straßen waren wie leer gefegt, und nur das Geräusch seiner Schritte war zu vernehmen.
Der dicke Wirt vom Landgasthof Dorfkrug saß dösend in einem Winkel des Lokals, als Tom sich an einem Ecktisch niederließ. Mühsam erhob er sich und leierte verschlafen die Speisekarte herunter. Tom entschied sich für Rinderroulade mit Bratkartoffeln und ein Bier. Kurz darauf kam der Wirt mit dem größten Bier zurück, das Tom je gesehen hatte. Es schäumte verführerisch.
In Anbetracht der Tatsache, dass eine regelrechte Hetzjagd auf ihn im Gange war, war es erstaunlich ruhig an diesem Ort. In seinem Kopf nahm ein Plan Gestalt an.
Das Lokal begann sich zu füllen, und eine Atmosphäre der Gemütlichkeit breitete sich aus. Die Leute schwatzten, und Tom schnappte die eine oder andere Äußerung über den grauenvollen Mordversuch an Arpata auf. Mordversuch, also war Arpata noch am Leben. Zumindest ein Mord weniger, für den er angeklagt werden konnte.
Tom bestellte ein zweites Bier, und die süffige goldene Flüssigkeit kühlte sein Gemüt. In einen Laden zu gehen, um sich neue Kleider zu kaufen, schien ihm wenig verlockend. Vielleicht war sein Bild ja morgen schon in allen Medien, und man würde ihn wiedererkennen. Vermutlich war es das Beste, wenn er sein Äußeres veränderte und Haare und Bart abrasierte. Aber dafür müsste er sich einen Rasierer kaufen, und dann hatte er dasselbe Problem wie mit den Kleidern.
Tom bezahlte und ging, er wollte nicht zu lange bleiben. Die kopfsteingepflasterte Hauptstraße lag still da, und in den Häusern brannte Licht. Tom spähte ein Haus aus, das ein wenig zurückgesetzt stand, und schlüpfte in den dunklen Vorgarten. Drei Personen konnte er in dem Haus ausmachen: einen Mann, eine Frau und einen Jungen im Grundschulalter. Geraume Zeit beobachtete er sie, dann wurden die Lichter gelöscht, und alles war still.
Tom schlich um das Haus herum. Die Sicht auf die Eingangstür war durch eine Garage geschützt, außerdem hatte die Tür einen Glaseinsatz, den er, wenn nötig, einschlagen konnte. Er merkte sich die Adresse und ging zurück ins Zentrum, um zu eruieren, wie er zum nächsten Bahnhof gelangen konnte.
Nachdem er die Bushaltestellen der Reihe nach abgeklappert hatte, stellte sich heraus, dass Kressbronn selbst über einen Bahnhof verfügte, von dem aus er über Lindau nach München fahren und von dort aus nach Wien weiterkommen konnte. Danach spazierte Tom in ruhigem Tempo zurück zu dem Haus, schlich erneut in den Garten und suchte sich einen Schlafplatz unter dem Apfelbaum. Das Gras war weich und feucht von der Nachtluft, er schlief schnell ein und wurde erst am Morgen vom flötengleichen Gesang einer Drossel geweckt. Blackbird singing in the dead of night . Adrenalin strömte durch seinen Körper. Take these broken wings and learn to fly .
Tom schlich an der Hauswand entlang bis zu der Garage, deren Tor offen stand. Ein Auto war darin geparkt, ein zweites stand auf dem Platz davor. Vielleicht waren beide Erwachsene berufstätig? Dann brauchte er nur abzuwarten, bis er die Autos abfahren hörte. Hinter der Garage wuchs dichtes Gestrüpp, und ein Lattenzaun schützte vor dem Einblick vom Nachbargrundstück aus. Tom war hochzufrieden mit seiner Wahl. Er setzte sich zwischen die wild wuchernden Büsche und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Garagenwand. Eine Weile würde er sich sicher noch gedulden müssen.
Ihm kam Don Alvaro in den Sinn, der Held der Oper, die allgemein nur »das Stück« genannt wurde, weil es Unglück bringen sollte, den Titel La forza del destino oder Die Macht des Schicksals auszusprechen. Er konnte sich nicht erinnern, ob er den Titel in letzter Zeit unbedacht ausgesprochen hatte, fühlte sich im Augenblick jedoch wie Don Alvaro, dem ein tragisches Schicksal vorherbestimmt war und der gejagt wurde für einen Mord, den er nicht begangen hatte. Die letzten vierundzwanzig Stunden kamen Tom vor wie dichter Nebel, in dem hin und wieder kurze Erinnerungsfetzen sichtbar wurden. Er summte leise das Leitmotiv vor sich hin, das durch die Filme Jean de Florette und Manons Rache allgemein bekannt geworden war.
Dann ging er im Kopf noch einmal die Ereignisse im Hotel durch. Eine plötzliche Panikattacke ließ ihn fürchten, er könnte ihr im Schlaf etwas angetan
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