Tödlicher Applaus
andere Schlafzimmer, in dem Anna in stabiler Seitenlage in ihrem Bett lag. Er beugte sich über sie und flüsterte ihr leise ins Ohr: »Die Welt ist gerecht, Anna. Das Schicksal ist uns zu Hilfe gekommen.«
Er legte seine Arme um Annas Schultern und drehte sie auf den Rücken. Dieses Ritual führte er jetzt seit zwanzig Jahren mehrmals täglich durch, immer zur gleichen Zeit, Tag und Nacht, damit Anna sich nicht wundlag. Er massierte sie sorgfältig und bewegte ihre Arme und Beine, wie es ihm der Physiotherapeut gezeigt hatte. Während der ganzen Zeit sprach er mit ihr. Er erzählte ihr, was er geträumt hatte, was in den letzten Tagen in der Welt geschehen war oder welche Blumen auf ihrem Inselparadies blühten. Er redete über Wind und Wetter, über Gott und die Welt.
Anna war ein medizinisches Phänomen. Seit ihrem Treppensturz lag sie im Koma. In der medizinischen Diagnose hieß es, ihr vegetativer Zustand sei in einen minimalen Bewusstseinszustand übergegangen.
Man muss aufpassen, was man sich wünscht, dachte Steen. Damals, als er Anna an Victor Kamarov verloren hatte, war sein einziger Wunsch gewesen, sie wieder zurückzubekommen. Und er hatte sie zurückbekommen. Aber so hatte er sich das nicht vorgestellt.
Steen nahm einen feuchten Lappen und tupfte damit Annas Stirn ab. Dann wischte er mit einem Wattestäbchen den Speichel aus ihrem Mundwinkel. »Victor hat Medina und Arpata verloren, er ist im Begriff, zu verlieren, wofür er dich geopfert hat. Die Welt ist gerecht, Anna, meine schöne, gute, unersetzbare Anna.«
Steen setzte sich in den Ohrensessel, der neben Annas Bett stand. Er dachte an seine Enkelin Maria. Maria mit der Engelsstimme, hübsch wie ihre Mutter. Dank seiner Verbindung zu Stan Vasilov konnte er Maria einmal ein großes Vermögen hinterlassen. Das würde sie unabhängig von ihrem Drecksack von Vater machen.
Das Telefon klingelte. »Hier ist Stan. Vermutlich weißt du es bereits?«
Atempause
Tom erwachte spätnachmittags. Sein Kopf dröhnte, sein Hals war trocken vor Durst, und ihm war schwindelig vor Hunger. Seine Kleider waren übersät mit Exkrementen, und ein Ausschlag hatte seinen ganzen Körper befallen. Die Haut brannte, prickelte, juckte. Er war kurz davor, das Handtuch zu werfen, denn eine Gefängniszelle und eine Mahlzeit erschienen ihm im Vergleich zu seiner momentanen Lage extrem reizvoll. Wenn er einfach den Weg zurückging, den er gekommen war, würde er im Laufe einer Stunde in polizeilichem Gewahrsam sein.
Er setzte sich aufrecht hin, in der Hoffnung, dies würde Ordnung in seine Gedanken bringen. Wenn er sich bei der Polizei meldete, war er erledigt. An Katja waren mit Sicherheit so viele DNA-Spuren von ihm, dass er seine Unschuld niemals würde beweisen können. Und Motive für die Morde an Medina und Arpata würden sich leicht finden lassen: ein erfolgloser Opernkritiker, der seinen Namen in den Annalen der Operngeschichte wiederfinden wollte. Bring einen berühmten Sänger um die Ecke, und im Handumdrehen bist du das Gesprächsthema Nummer eins. Er war an beiden Tatorten gewesen. Und während die Polizei ausschließlich ihn als Verdächtigen im Visier hatte, konnte der tatsächliche Mörder alle Spuren verwischen und entkommen.
Er durfte sich auf keinen Fall schnappen lassen, denn er musste – wie auch immer – seine Unschuld beweisen. Und er musste irgendwie zurück nach Wien. Die Antwort lag bei Rudi Maier, davon war er überzeugt.
Tom stand auf und lief los. Er hatte auf einem kleinen Hinweisschild für Wanderer den Ortsnamen Kressbronn gelesen. Sicher ein kleines Dorf. Dort könnte er hoffentlich etwas zu essen, Wasser und etwas Sauberes zum Anziehen organisieren.
Am Rand eines Wäldchens stieß er auf einen Bach. Er zog sich aus und wusch seine Kleider in dem Wasser, das sich sogleich gelbbraun färbte, breitete sie zum Trocknen in der Nachmittagssonne aus und zwängte dann seinen nackten Körper in das kleine, natürliche Becken. Es war der reinste Luxus, ganz still dazuliegen, während das kühle, fließende Wasser das Jucken seines Ausschlags linderte.
Nach einer Weile begann er, vorsichtig über seinen Körper zu streichen und die Jaucheklumpen zu lösen, die sich auf seiner Haut festgesetzt hatten. Als die Sonne unterging und es deutlich kälter wurde, zog er seine feuchten Kleider wieder an.
Kressbronn war nicht mehr weit, und in der einbrechenden Dämmerung würde er eine Erkundungsrunde unternehmen können, ohne aufzufallen. Das Geld in
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