Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tödlicher Applaus

Tödlicher Applaus

Titel: Tödlicher Applaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Øystein Wiik
Vom Netzwerk:
fühlte sich wie in einer Stromschnelle, die sich unerbittlich dem Wasserfall näherte. Sollte er den Besoffenen spielen, vorgeben, sturzbetrunken zu sein? Würden sie ihn dann einfach durchwinken? Aber was, wenn sie ihn einsperrten, weil er alkoholisiert Fahrrad gefahren war? Gab es in Deutschland eine Promillegrenze für Fahrradfahrer? Der Gestank der Gülle stach in seine Nase, und sein Magen krampfte sich zusammen.
    Die Scheune war jetzt nur noch wenige Meter entfernt. Er bog ab, schob das Rad über den Hofplatz, lehnte es an die Hauswand und fragte sich, unter welchem Vorwand er wohl ins Haus gelangen konnte. Sollte er nach einer Toilette fragen? Und würde er anschließend einfach wieder zurückradeln können, ohne Verdacht zu erregen?
    Er klingelte, aber niemand öffnete. Draußen auf dem Feld brummte der Trecker. Das Feld erstreckte sich parallel zur Straße, und der Traktor fuhr ein ums andere Mal an der Straßensperre vorbei zu einem höher gelegenen Maisfeld, wo er wendete und auf dem Rückweg wieder an Haus und Scheune vorbeikam. Der Güllegestank wurde stärker, als der Trecker das Gehöft passierte. Brauner Sprühnebel besprenkelte in einem weiten Fächer den Boden. Eine Wolke von Fliegen folgte dem Anhänger. Nun fuhr der Traktor an der Rückseite des Hauses vorbei zum anderen Feldende.
    Tom starrte ihm hinterher. Was, wenn er … Ihm wurde schlecht. Das wäre wirklich die übelste Lösung. Aber wie sollte er sonst an der Straßensperre vorbeikommen? Wenn er sich in der Scheune versteckte, würden sie ihn über kurz oder lang finden. Trat er den Rückweg an, riskierte er, auf eine weitere Straßensperre zu stoßen. Außerdem waren da die Hunde. Er durfte jetzt nicht allzu lange überlegen, denn der Traktor hatte gerade gewendet, um wieder in Richtung Maisfeld zu fahren.
    Tom schaltete seine Vernunft und jedes Feingefühl aus. Den Rücken an die Hauswand gepresst, schob er sich so weit vor, dass er den Traktor sehen, selbst aber nicht gesehen werden konnte. Als der Trecker am Haus vorbeifuhr, schlüpfte er um die Ecke und rannte in Windeseile hinter den Hänger. Er rutschte auf der güllegetränkten Erde aus, und seine weiße Leinenhose saugte die Gülle wie Löschpapier auf. Er rappelte sich wieder auf und stürmte hinter dem Hänger her.
    Dabei geriet er mit dem Kopf in die Sprühnebel. Er kniff die Augen zu und spürte die warme Brühe auf seiner Brust, packte das hintere Gestänge des Wagens und schob seine Beine nach vorn über die untere Querstrebe. Wieder spritzte ihm Brühe in Nase und Augen, doch dann war er auch schon unter der Düse, und mit den Kniekehlen über der Querstrebe hatte er eine einigermaßen stabile Position. Es stank unbeschreiblich, und immer wieder tropfte ihm etwas ins Gesicht, sodass er sich schließlich erbrach. Essensreste und Schleim mischten sich mit der gelbbraunen Suppe.
    Er schloss die Augen und dachte daran, dass er bald an den Sperren vorbei und frei sein würde. Er atmete durch den Mund, damit der Gestank erträglicher wurde, aber bei jedem Ruckeln des Anhängers tropfte ihm Gülle in den Rachen. Er hustete und spuckte und spannte seinen ganzen Körper an.
    Es heißt, Zeit sei ein relativer Begriff, und Tom Hartmann erfuhr die Wahrheit dieser Behauptung am eigenen Leib. Die Sekunden unter dem Güllewagen dehnten sich zu einer Ewigkeit. Um sich aus der stinkenden Wirklichkeit hinauszukatapultieren, dachte er an die schönsten Opernarien. O Paradiso, dal onda uscito – Land so wunderbar, gärtenreich und schön, sang er innerlich. Dieser Höllenritt konnte unmöglich länger dauern als die Arie aus der Afrikanerin .
    Endlich wechselte der Anhänger die Richtung. Tom drehte den Kopf zur Seite, um sich zu orientieren, zog die Füße von der Strebe und ließ los. Weich landete er auf dem feuchten Boden. Einen Augenblick lang blieb er still liegen und wartete förmlich auf die deutschen Stimmen, die schreiend auf ihn aufmerksam machten. Doch nichts geschah. Dann drehte er seinen Kopf langsam in die Richtung, in der er die Straßensperre vermutete. Sie war von einer Bodenwelle im Acker, dicht an der Grenze zum Maisfeld, verdeckt. Eins war sicher: Kein Spürhund der Welt würde ihn finden, solange er über und über mit Jauche bedeckt war.
    Tom lachte vor Erleichterung und weinte vor Erschöpfung. Mit letzter Kraft schleppte er sich zwischen die hohen Maisstauden. Dann rollte er sich wie ein Säugling zusammen und schlief ein.
     

Hysterische Reaktionen
    »Noch eine

Weitere Kostenlose Bücher