Tödlicher Ausweg: Thriller (German Edition)
Scharfschützen registrierte sie jedes Nicken, jede Kopfbewegung und jede Geste ihrer Zielperson und achtete ebenso gewissenhaft auf die Umstehenden. Sie sah, wer mit wem sprach, wer sich vorbeugte und flüsterte, wer mit wem die Veranstaltung verließ. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits gesehen, was nie jemand anderem aufgefallen wäre … und noch einiges mehr.
Schließlich gab sie einem Kellner – einem ihrer Angestellten – ein Zeichen, stellte ihr halbleeres Glas auf sein Tablett und näherte sich mit hängenden Schultern und unterwürfig geneigtem Kopf dem Kreis von Anzugmenschen, die sich um den Kongressabgeordneten drängten, einen großen, schlanken Mann, dessen blonder Schopf aus der Menge herausragte.
Eine Gesprächspause erlaubte es ihr, sich einzuklinken. »Herr Abgeordneter, es ist mir eine große Ehre, Ihnen hier begegnen zu dürfen.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Sabrina McCullough. Mich würde interessieren, ob Sie gegen den Gesetzesentwurf zum Emissionshandel angehen werden?«
Der Abgeordnete bedachte sie und die Umstehenden mit einem jovialen Lächeln. »Es handelt sich um einen äußerst komplizierten Gesetzesentwurf, und ich komme ungern zu einem endgültigen Schluss, bevor ich nicht die Gelegenheit hatte, sämtliche möglichen Implikationen zu bedenken. An Ihrer Meinung, meine Herren, wäre ich aber durchaus interessiert.« Sabrina war längst vergessen, als der Abgeordnete einem massigen Mann mit Hängebacken die Hand auf die Schulter legte. »Senator Beasley?«
Sabrina nickte, obwohl ihr klar war, dass er das weder wahrnahm noch würdigte. Darum ging es auch nicht. Sie hatte den nötigen Kontakt mit der Zielperson hergestellt. Ihre Angestellten, allen voran Chase, beharrten darauf, wie gefährlich solche Begegnungen sein konnten und dass sie das Risiko nicht wert waren. Sabrina stellte jedoch klar, dass ihr der persönliche Kontakt, wie flüchtig auch immer, einzigartige Einblicke eröffnete. In Wahrheit aber – und das würde sie nicht einmal sich selbst eingestehen – lechzte sie nach dem Adrenalinschub, den die physische Nähe zur Zielperson auslöste. Es war eine Sucht, keine freie Entscheidung.
Sabrina wartete, ob der Abgeordnete irgendetwas Interessantes zum Emissionsgesetz sagen würde. Nachdem aber der Senator seine Unlust bekundet hatte, sich zu dem Gesetzesentwurf zu äußern, wechselte irgendjemand das Thema und sprach den Abgeordneten auf seinen baldigen Urlaub auf Martha’s Vineyard an. Sofort erging er sich in langweiligen Erinnerungen an die Sommer, die er als kleiner Junge dort verbracht hatte. Sabrina verflüchtigte sich unauffällig. Als sie den Saal verlassen hatte und die Treppe hinabstieg – sie mied Aufzüge, die sie in allzu große Nähe mit allzu vielen Augen zwangen, von den Überwachungskameras mal ganz zu schweigen –, nahm sie die Brille ab und zog verdeckt einen winzigen Gegenstand aus dem Bügel. Kurz bevor sie die Lobby betrat, setzte sie die Sonnenbrille auf. Einer der Hoteldiener kam herbei, und als sie nickte, eilte er los, um ihren Wagen zu holen. Ins Trinkgeld, das der Mann schnell in die Tasche steckte, hatte Sabrina die Mikrokamera gewickelt. Sabrina nahm nie etwas mit, das man mit ihrer Arbeit in Zusammenhang bringen könnte. Der Hoteldiener würde die Kamera, zusammen mit seinem Bericht über die Gäste, auf bewährtem Wege nachschicken.
Der nächste Morgen begann strahlend und warm. Sabrina warf ihr Handgepäck auf den Rücksitz und hielt das Gesicht in die Sonne. Es gab nichts Schöneres als die Winter in Miami. Nicht einmal Kalifornien konnte da mithalten. Sie ließ den Motor an, drückte auf einen Knopf, um das Dach zurückzuklappen, und raste los in Richtung Flughafen, das lange schwarze Haar ein glänzender Schleier im Wind.
Sie nahm ihr Handy und drückte die 1.
»Mhm?«, meldete sich Chase mit schlaftrunkener Stimme.
Sie hatte vergessen, dass sie drei Stunden weiter war, aber egal. Ein früher Start in den Tag würde ihn nicht umbringen. »Ich bin fertig hier.«
»Wann müssen wir liefern?«
»Gestern.«
Schweigen. Knappe Fristen machten Chase immer nervös, aber sie wusste, dass er unter Druck am besten arbeitete.
»Hast du unseren Freund schon gefunden?«, fragte sie.
»Nein. Wir wissen aber, dass er nicht in einem der Krankenhäuser ist.«
»Aber ihr habt ihn zu Boden gehen sehen? Da seid ihr euch sicher?«
»Kein Zweifel«, antwortete Chase.
Sabrina nickte vor sich hin. So weit, so gut. Solange er am Boden
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