Tödlicher Ausweg: Thriller (German Edition)
würde, um den frühestmöglichen Termin für die Voruntersuchung herauszuschlagen, also blieb mir nicht viel Zeit. Nach allem, was ich vor Gericht gehört hatte und was die schmale Mappe in meiner Hand hergab, war noch eine Menge zu tun. Nicht zuletzt musste ich herausfinden, wer das Opfer war, das man noch als »John Doe« eingetragen hatte. Daher gab ich Toni, die ins Little Tokyo gehen und Sushi essen wollte, einen Korb und schnappte mir ein diättaugliches Truthahn-Sandwich mit Salatblatt, um es am Schreibtisch zu verzehren.
Als ich dort ankam, war das achtzehnte Stockwerk praktisch ausgestorben. Still und leer, wie ich es liebte. Die Mappe von meinem anderen Fall räumte ich vorläufig auf den Tisch vor dem Fenster und ignorierte geflissentlich, dass der schwankende Aktenstapel dort schon meine geliebte Neunzig-Grad-Aussicht zu beeinträchtigen drohte. Ich öffnete die unterste Schreibtischschublade, legte meine Tasche auf die Flasche Glenlivet, die ich darin aufbewahrte, und streckte meine Füße darauf aus.
Dann schlug ich die schmale Akte auf. Mein John Doe war die Hope Street – was für eine Ironie! – in Richtung Norden gegangen und hatte zwischen Fourth und Fifth Street die Hand ausgestreckt und eine Frau am Arm gepackt. Eine Weile hatten sie gerangelt, dann wird die Geschichte schwammig. Entweder hatte sie sich losgerissen, und das Opfer war zu Boden gegangen, oder er fiel zu Boden, und sie konnte sich befreien. Der Bericht zitierte Charlie Fern mit den Worten, dass Ronald Yamaguchi direkt neben John Doe gestanden habe, dass er es also gewesen sein müsse, der ihn erstochen habe. Gesehen habe er, Fern, das allerdings nicht wirklich.
Das war eine interessante Abweichung gegenüber dem, was Fern vor Gericht gesagt hatte, und zwar weniger ein Widerspruch als eine andere Gewichtung. Der Interpretationsspielraum steckte genau in der Formulierung, er habe es nicht wirklich gesehen. Warum er seine Aussage vor Gericht entschärft hatte, darüber konnte man nur rätseln. Unter Eid wurden Zeugen oft nervös, aber genauso gut war es möglich, dass Fern übertrieben hatte, als er von der Polizei vernommen worden war. Wie dem auch sei, die Aussage selbst barg das Problem in sich, und ein aufmerksamer Ankläger hätte Fern vor der Voruntersuchung noch einmal darauf angesprochen. Oder er hätte sich wenigstens auf mögliche Komplikationen eingestellt. Hätte dieser gelangweilte Staatsanwalt seinen Job anständig gemacht, hätte der Polizist, der den Bericht geschrieben hatte, seinen Hintern längst in Richtung Gericht in Bewegung gesetzt.
Grundsätzlich nörgele ich nicht gern an Kollegen herum. Außer dem Staatsanwalt, der mit einem Fall betraut ist, hat niemand den Durchblick, und manchmal besteht der klügste Schachzug gerade in dem, was jemand nicht tut. Hier wollte ich das »In dubio pro reo« aber nicht gelten lassen, nicht nach allem, was ich in dem Bericht gelesen hatte. Ich hatte keinerlei Zweifel, dass Stoner die Wahrheit sagte und Averill ihn nicht schriftlich vorgeladen hatte.
Warum hatte Fern die Polizei überhaupt auf Yamaguchi gebracht, wenn er doch, wie er selbst behauptete, Yamaguchi gar nicht kannte?
Ich blätterte zum Verhaftungsprotokoll vor. Offenbar stand Yamaguchi in der Menge der Gaffer, die sich, nachdem endlich die Polizei verständigt worden war, schnell angesammelt hatte. Charlie entdeckte ihn dort und wies die Polizei auf ihn hin. Merkwürdig. Warum sollte Yamaguchi zum Tatort zurückkehren, wenn er doch schon das Weite gesucht hatte? Andererseits wäre er nicht der Erste, der be0bachtete, wie die Polizei an »seinem« Tatort ihre Arbeit verrichtete.
Und wer war unser John Doe, der einsam und unbeachtet auf einem schmutzigen Gehweg lag, während er sein Leben aushauchte? Mir drängte sich ein Bild auf: eine Mutter, die voller Hoffnungen und Träume auf das Gesicht ihres Babys hinabsah.
Rasch schob ich die deprimierenden Gedanken beiseite und konzentrierte mich wieder auf den Bericht. John Doe hatte ein Teppichmesser dabei, und er hatte diese Frau angefasst. Durchaus möglich, dass ihn irgendjemand als Reaktion auf eine Bedrohung erstochen hatte. Wenn es aber keine Notwehr war, dann war ich es John Doe schuldig, seinen Mörder die Tat büßen zu lassen. Oder es wenigstens zu versuchen.
Der Tatort lag einen kurzen Fußmarsch vom Büro entfernt und nur wenige Blocks von meinem Zuhause – einer Suite im Biltmore Hotel, diesem so geschichtsträchtigen Prachtstück im Herzen von L.A.
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