Toedlicher Blick
Abwasch, danach marschierten sie eineinhalb Kilometer zu einem Antiquariat und schleppten ein halbes Dutzend Bücher zurück nach Hause. Während Weather ein Buch über menschliche Osteologie durchblätterte, beschäftigte Lucas sich wieder mit der Menomonie-Akte. In einer Tasche am Ende steckten Fotokopien von dreißig oder vierzig Fotos. Bei den meisten handelte es sich um Polizeifotos, aufgenommen von der Spurensicherung in Laura Wintons Appartement und in Nancy Vanderposts Wohnwagen. Eine Fotoserie zeigte eine junge Frau, laut Beschriftung Laura Winton, Marshalls Nichte. Man hatte sie beim Wandern im Wald und irgendwo auf einem Pfad unter Bäumen aufgenommen. Zwischen den Bäumen hinter ihr war eine Lücke, und Lucas meinte, die Gegend sehe aus wie das Mississippital zwischen Minneapolis und St. Paul. Aber es gab keine speziellen Erkennungsmerkmale, nur eine niedrige halbrunde Steinmauer.
Er reichte Weather die Fotos. »Meinst du, das könnte hier bei uns irgendwo sein?«
Sie sah sich die Fotos gründlich an, sagte dann: »Könnte sein. Wer ist das?«
Er erklärte es ihr. »Na ja, es könnte auch in der Gegend von Menomonie sein«, sagte Weather. »Dort gibt’s auch einen Fluss und einen großen See, in einem ziemlich tiefen Tal … Könnte auch dort sein.«
»Ich habe aber das Gefühl, es wäre hier irgendwo.«
Er schlug die Akte an der Stelle auf, wo er die Fotos herausgenommen hatte, wollte sie wieder wegstecken. Aber irgendetwas an ihnen ließ ihm keine Ruhe. Waren sie tatsächlich hier in der Nähe aufgenommen worden? Vielleicht drängte sich wegen des Fotos mit der Steinmauer der Eindruck bei ihm auf, er würde die Gegend kennen …
Er ging die Fotos noch einmal langsam durch. Und plötzlich durchzuckte ihn die Erinnerung. »Heilige Scheiße!«
Weather sah hoch, aufgeschreckt vom Ton in seiner Stimme. »Was ist los?«
»Diese Fotos … sie sehen aus, als ob sie an dem Ort aufgenommen worden wären, an dem Aronsons Leiche gefunden wurde!«
»Was?«
»Diese Fotos von Laura Winton. Sie scheinen am Fundort von Aronsons Leiche gemacht worden zu sein. Ich war vorgestern erst dort.« Er sah sich die Fotos noch einmal an. »Verdammt, Weather, ich glaube, das ist tatsächlich derselbe Ort.«
Marshall wusste wahrscheinlich etwas über die Herkunft der Fotos.
Lucas sah auf die Uhr: zwanzig vor elf. Noch früh genug. Er fand Marshalls dienstliche Visitenkarte in der Akte; auf die Rückseite hatte er seine private Telefonnummer gekritzelt. Marshall hatte ja gesagt, Lucas könne ihn jederzeit anrufen.
Er wählte, und nach viermaligem Läuten meldete sich eine verschlafene, raue Raucherstimme: »Hallo?«
»Terry Marshall?«
»Ja … Wer …?«
»Lucas Davenport, Deputy Chief in Minneapolis. Terry, entschuldigen Sie, dass ich noch so spät anrufe.«
»Okay, Chief, was ist los?«
»Ich habe Ihre Akte studiert und mir die Fotos angesehen, die beigefügt sind. Die Fotos von Ihrer Nichte im Wald … Woher stammen diese Fotos?«
»Einen Moment mal, ich schwinge mich schnell mal auf die Bettkante … Ja, diese Fotos. Wir glauben … ehm,
ich
glaube, dass der Killer sie aufgenommen hat. Als Laura vermisst wurde und Berichte darüber in den Zeitungen erschienen, meldete sich der Besitzer eines Drugstores in der Stadt bei uns und sagte, Laura habe einen Film bei ihm zur Entwicklung abgegeben und nicht abgeholt. Er hat ihn uns gegeben und wir haben die Fotos vergrößern lassen – ihre Mitbewohnerinnen im Haus sagten, sie habe davon gesprochen, mit ihrem Freund eine Wanderung in den Wäldern machen zu wollen. Was ist los mit den Fotos?«
»Sie wissen nicht, wo sie aufgenommen wurden?«
»Nein, nein, einfach irgendwo im Wald.«
»Terry, ich will Ihnen was sagen: Kann sein, dass ich spinne, aber ich glaube, die Fotos sind am selben Ort gemacht worden, an dem Aronsons Leiche gefunden wurde. Die Lage des Hügels, die Bäume … Wie gesagt, vielleicht liege ich völlig daneben, aber …«
Eine lange Stille, dann: »O Mann, ich bin nie zu diesem Ort gegangen. Ich war in New Richmond, aber sonst nirgends.«
»Denken Sie doch mal nach«, sagte Lucas. »Wenn man ein Serienkiller ist und einen guten Ort zum Vergraben der Leichen gefunden hat, warum sollte man dann nach anderen Orten suchen?«
»Ein Friedhof«, sagte Marshall mit belegter Stimme.
»Ja, das denke ich auch.«
»Sie werden das überprüfen, nicht wahr?«, fragte Marshall.
»Ich werde die Sache gleich morgen früh ankurbeln.«
»Ich komme zu Ihnen«,
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