Toedlicher Hinterhalt
sie nun fast schon ihr ganzes Leben lang verspürte. Sie wollte nicht, dass er am morgigen Abend mit ihr essen ging. Stattdessen sollte er sie lieber auf seinem alten Motorrad mitnehmen, das immer noch sorgsam geschützt unter der Abdeckplane in der Garage stand. Sie sehnte sich danach, schnell zu fahren, so schnell, dass all ihr Schmerz, die Wut und die Angst förmlich von ihr abfielen.
Die Angst machte ihr am meisten zu schaffen. Die Angst, dass Betsy McKenna trotz all der Fortschritte in der modernen Medizin und trotz der Betreuung in einem der besten Kinderkrankenhäuser der Welt sterben würde. Die Angst, ihr Vater könnte beerdigt werden, ohne sich mit Joe versöhnt zu haben, und die Angst davor, dass dieser sich niemals von diesem Schlag erholen würde. Die Angst, dass sie sich für den Rest ihres Lebens wünschte, ihr wären wenigstens ein paar mehr Monate mit ihrem Vater geblieben und sie hätte den Mut besessen, ihm in die Augen zu sehen und zu sagen, dass sie ihn immer geliebt hatte – auch wenn er betrunken und grausam zu ihr gewesen war. Den Mut, ihn zu fragen, ob er nicht irgendwann einmal ähnliche Gefühle für sie empfunden hatte.
Die Angst, dass sie genauso verbittert und tragisch einsam sterben würde wie er.
Sie brauchte Ablenkung, richtig, doch sie wollte etwas Aufregenderes als ein Dinner und eine nette Unterhaltung. Sie wollte Körperkontakt und heiße, innige Küsse. Sie wollte einen wilden, hingebungsvollen, komplett atemberaubenden Abend verleben – das volle Programm eben. Sie wollte nichts als Lust spüren, nichts als Leidenschaft. Und der ungestüme Tom Paoletti war genau der richtige Mann für diesen Job.
Sie hatte die letzten sechzehn Jahre damit verbracht, auf eine Gelegenheit zu hoffen, ihn wieder zu küssen. Damit, sich zu fragen, ob die Wirklichkeit wohl mit dem in ihrer Erinnerung perfekten Moment mithalten konnte. Morgen Abend würde sie es vielleicht herausfinden.
»Wie alt ist sie?«, erkundigte sich Tom, und es fühlte sich so an, als würde seine rauchige Stimme wie Samt über ihr Ohr streichen .
»Gerade sechs geworden.« Ihre Unterlippe bebte, als wäre Kelly selbst noch ein kleines Mädchen. Komm schon, Ashton, reiß dich zusammen!
»Verdammt!«
»Tom …« Kelly hielt sich den Mund zu. Was hatte sie denn jetzt schon wieder vor? Wollte sie ihn etwa bitten, Sex mit ihr zu haben? Eine Einladung zum Essen war eine Sache, aber großer Gott … Sie konnte sich seine überraschte Reaktion schon ausmalen, seinen Versuch, höflich zu bleiben. Also, sicher, das wäre nett , aber … »Tut mir leid«, sagte sie stattdessen. »Ich muss jetzt wirklich los.«
»Kelly, ich bin hier … wenn du etwas brauchst.«
»Danke«, presste sie hervor, bevor sie den Hörer auflegte.
Und obwohl sie nur noch den Kopf auf den Papierstapel legen und losheulen wollte, machte sie sich selbst Mut, wie sie es schon so oft getan hatte, und ging wieder an die Arbeit.
Ihr Vater wäre sicher stolz auf sie gewesen.
7
»Was bringt denn eine Entschuldigung, wenn du das, wofür du dich entschuldigst, danach nicht bleiben lässt?« Charles’ Stimme bebte vor Wut. »Das ist so, als würdest du behaupten, es täte dir leid, mir mit einem Stück Holz auf den Kopf geschlagen zu haben, während du weiter damit auf mich einprügelst!«
»Ich haue dir aber nichts gegen die Rübe«, erwiderte Joe hitzig. »Und wenn du diesen Vergleich unbedingt benutzen möchtest, dann solltest du dir vor Augen führen, wie du mir seit 1944 immer dasselbe Kantholz über den Schädel ziehst! Du müsstest dich eigentlich bei mir entschuldigen!«
Als Tom ins Zimmer trat, sah er, dass sich Charles die Ohren zuhielt und aus voller Kehle zu singen begann. »La, la, la, la, la!«, brüllte er, um Joes Worte zu übertönen.
»Was zur Hölle ist hier los?« Tom musste schreien, um sich Gehör zu verschaffen.
Die beiden alten Männer verstummten, standen sich mitten in Charles’ großem Wohnzimmer jedoch immer noch wie zwei ehemalige Boxer gegenüber.
Charles’ Sauerstofftank befand sich in Reichweite und er nahm einen Zug, indem er seinen Mund und die Nase mit der Maske bedeckte, während er Joe weiterhin anfunkelte.
»Warum trägst du den Nasenschlauch nicht?«, fragte dieser müde. »Wenn du Sauerstoff brauchst –«
Charles griff nach seiner Gehhilfe und schleuderte sie so fest er konnte durch den Raum – sie flog jedoch nicht sehr weit. » Darum «, antwortete er verbittert und zitterte vor Wut. »Ich kann weder
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