Toedlicher Hinterhalt
verbracht. Die Reise war exorbitant teuer gewesen – die ganze Woche hatte vermutlich mehr gekostet als Cybeles Haus in Ste.-Hélène. Selbst damals war ihm die Ironie nicht entgangen – er hatte viel Geld dafür bezahlt, Eis und Schnee hinter sich zu lassen und an einen warmen Ort zu fliegen, nur um dort noch mehr Geld für ein Glas voll mit eben diesem Eis auszugeben, das wahrscheinlich mit dem gleichen Flugzeug wie er hertransportiert worden war.
Nein, nicht bloß für Eis, für Eis und kubanischen Rum. Die Kombination ging runter wie Öl. Und nach ein paar Gläsern war ihm sogar die Aussicht, den Rest seines Lebens mit der kindisch selbstsüchtigen Jenny zu verbringen, grandios vorgekommen.
Charles schreckte aus dem Schlaf hoch, da Luc Un ihm heftig mit dem Fuß in die Seite trat und etwas Böses flüsterte, das er nicht genau verstand. Die Bedeutung war allerdings offensichtlich – du Penner!
Die beiden Lucs, Henri und Jean-Wer-auch-immer – Jean-
Claude oder Pierre oder vielleicht auch ein weiterer Luc, wer konnte die schon auseinanderhalten? – waren immer noch ziemlich unzufrieden mit Charles, weil sie seinetwegen lernen mussten, wie man Socken stopfte. Dabei hatte Charles doch in Wirklichkeit gar nichts Schlimmes gemacht, sondern bloß etwas zu tun haben wollen und bei jeder Gelegenheit gearbeitet. Es war sein Beitrag, gegen die Nazis zu kämpfen – indem er Cybele und die anderen Frauen entlastete, damit diese gefährlichere Dinge erledigen konnten. Für ihn ging das in Ordnung. Und wenn er eine Wahl hatte und nicht auf sicherem Weg zurück nach Hause geschickt werden konnte, dann würde er eben bis zum Ende des Krieges in dieser Küche bleiben, danke.
Er stellte sich im Umgang mit der Nadel inzwischen viel geschickter an – war nicht so flink wie Cybele oder Dominique, nein, aber mit Sicherheit der Schnellste unter den Männern.
Zunächst kam Joe hinzu. Charles hatte gerade mal einen Tag Socken gestopft, als Joe sich eine Nadel schnappte und sich ihm anschloss.
Ohne Zweifel versuchte er, auf diese Weise bei Cybele zu punkten.
Aber soweit Charles es beurteilen konnte, hatte Joe dafür lediglich ein strahlendes Lächeln von Cybele geerntet.
Keine Küsse.
In den Genuss dieser besonderen Belohnung war nur Charles gekommen.
Wobei Cybele es seitdem sorgfältig vermieden hatte, mit ihm allein zu sein. Und das war auch gut so, sagte er immer wieder zu sich selbst.
Er hatte sie mit Geschichten über Baldwin’s Bridge unterhalten – allerdings nur, wenn Joe sich im Raum befand und als Übersetzer fungierte. Und als Anstandswauwau.
In erster Linie konnte man den Kerl jedoch als Arbeitstier bezeichnen. Zwar vergaß man fast, dass er da war, so still verhielt er sich. Aber die Bohnen und das frische Grünzeug auf dem Tisch hatten sie ihm zu verdanken. Und immer wenn es einen Aufruhr in der Stadt gab, wenn den Deutschen eine Lkw-Ladung Vorräte vor der Nase gestohlen worden war oder nachts ein Zug entgleiste, immer wenn ein abgeschossener amerikanischer Pilot der Gefangennahme durch die Nazis entkam, dann standen die Chancen gut, dass auch dieses Mal Joe seine Finger im Spiel hatte.
Obwohl sie komplett verschieden waren, mochte Charles Joe. Er respektierte ihn.
Und auch ohne seinen Harvard-Abschluss hätte er gemerkt, dass Joe Cybele sehr gern hatte.
Es waren erstaunlich reine, ehrfürchtige Gefühle, die er für sie hegte. Es handelte sich um die Art von Liebe, die eine Frau wie Cybele Desjardins verdiente. Eine fromme Liebe. Eine ehrliche, respektvolle, bescheidene und wahre Liebe.
Kein Zweifel – Joe hätte absolut alles für sie getan. Ja, er würde sein Leben für sie geben, wenn sie auch nur danach fragte.
Sie, die eine Woche zuvor Charles geküsst hatte.
Also, Charles war in seinem relativ kurzen Leben schon mit vielen Frauen intim geworden, und auf einer Skala von eins bis fünf, wobei der höchste Wert für eine enthusiastische Frau stand, die ihm fast die Zunge in den Hals steckte, entsprach dieser klitzekleine Kuss einer soliden Null.
Kein bisschen Zunge war im Spiel gewesen. Es bedeutete also nichts. Null Komma nichts. Es hatte sich um die Art von trockenem, pflichtbewusstem Kuss gehandelt, wie er ihn seiner älteren unverheirateten Tante geben würde. Das war ganz und gar platonisch gewesen. Es war …
Gott, wem wollte er denn etwas vormachen? Dieser Kuss war alles andere als das gewesen, sondern hatte vor Gefühl und kaum verhohlener Leidenschaft förmlich vibriert, stellte
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