Tödlicher Irrtum
Kriminaloberkommissar, die Familie Jackson und selbst der Mann, der von der Polarexpedition zurückkehrte und den ganzen Wirbel unwillentlich ausgelöst hat. Er war übrigens heute Nachmittag hier.«
Donald Craig blickte erstaunt auf.
»Wirklich? Was hat er gesagt? Hat er eine Ahnung, wer…?«
Dr. MacMaster schüttelte den Kopf.
»Nein, er hat keine Ahnung. Wie könnte er auch? Er erscheint urplötzlich auf der Bildfläche, sieht die Familie zum ersten Mal. Nein, es sieht so aus, als habe niemand eine Ahnung.«
»Das fürchte ich auch.«
»Worüber regen Sie sich überhaupt so auf, Don?«
Donald Craig holte tief Atem.
»Hester und ich wollten an dem Tag, als dieser Calgary bei den Jacksons erschien, zu einem Vortrag in Drymouth gehen, und dann rief sie mich an und sagte, dass sie sehr beunruhigende Nachrichten erhalten habe und leider unsere Verabredung nicht einhalten könne. Sie erwähnte Dr. Calgarys Namen bei dieser Gelegenheit nicht. Sie war offenbar sehr erregt und – und – es lässt sich schwer erklären, sie schien einen schweren Schock erlitten zu haben.«
»Das war aber doch kaum anders zu erwarten«, meinte der Arzt. »Sie ist noch sehr jung, knapp zwanzig, wenn ich nicht irre.«
»Aber warum ist sie so aufgeregt? Wovor hat sie Angst?«
»Hat sie wirklich Angst? Nun ja, es wäre schon möglich…«
»Woran denken Sie, Mac? Was halten Sie davon?«
»Es ist viel wichtiger, was Sie davon halten.«
»Wenn ich nicht Arzt wäre, würde ich wahrscheinlich gar nicht auf solche Gedanken kommen«, erklärte der junge Mann bitter. »Ich wäre überzeugt, dass Hester nicht imstande ist, etwas Unrechtes zu tun. Aber wie die Dinge nun einmal liegen…«
»Ja? Sprechen Sie sich ruhig aus, Don.«
»Ich glaube zu wissen, was in Hester vorgeht. Sie leidet noch immer unter den instabilen Verhältnissen ihrer frühesten Jugend…«
»Ich weiß – so sagt man heutzutage.«
»Sie hat bisher noch keine Zeit gehabt, sich wirklich zu fangen. Bis zum Tag der Tragödie lehnte sie sich heftig gegen jede Bevormundung und übertriebene Mutterliebe auf, wie es so viele junge Mädchen tun. Sie wollte rebellieren, sich selbständig machen, das hat sie mir selbst erzählt. Sie lief von zu Hause fort und wurde Mitglied eines drittrangigen Wandertheaters. Ihre Mutter reagierte sehr vernünftig. Sie schlug vor, dass Hester eine der anerkannten Theaterschulen in London besuchen und den Beruf gründlich erlernen sollte. Aber das passte Hester nicht in den Kram. Sie wollte nicht eigentlich Schauspielerin werden – sie wollte nur ihre Unabhängigkeit beweisen. Die Jacksons widersetzten sich ihr nicht, sondern gaben ihr sogar einen großzügigen Monatswechsel.«
»Das war sehr weise von ihnen«, stellte MacMaster fest.
»Schließlich verliebte sie sich in einen Schauspieler des Wandertheaters, einen Mann in mittleren Jahren, musste jedoch bald einsehen, dass diese unerfreuliche Affäre zu nichts führte. Mrs Jackson erschien auf der Bildfläche, redete mit dem Mann ein ernstes Wort, und dann fuhr Hester mit ihr nach Hause.«
»Nachdem sie ihre Lektion gelernt hatte, wie man in meiner Jugend zu sagen pflegte«, meinte MacMaster. »Natürlich macht es keinen Spaß, Lektionen dieser Art zu lernen, auch Hester nicht.«
»Sehr richtig. Sie fühlte sich missverstanden, und sie konnte den heimlichen Groll gegen ihre Mutter umso weniger verwinden, als sie wusste, dass Mrs Jackson von Anfang an recht gehabt hatte. ›Mutter weiß, was für dich am besten ist.‹ Für viele junge Menschen ist diese Erkenntnis eine bittere Pille.«
»Eben das war Mrs Jacksons größte Schwierigkeit, obwohl sie sich dessen gar nicht bewusst war: Die Tatsache, dass sie fast immer Recht hatte und wirklich meist wusste, was das Beste war. Wäre sie eine von jenen Frauen gewesen, die mal Schulden machen, ihre Schlüssel verlieren, Züge verpassen oder sonst irgendetwas ›Unvollkommenes‹ tun oder sich in Situationen bringen, aus denen andere ihnen wieder heraushelfen müssen – ihre Familie hätte sie bestimmt mehr geliebt.
Traurig, aber wahr. So ist das Leben nun mal. Und Rachel Jackson war auch nicht klug genug, ihre Klugheit geschickt zu verbergen. Dazu war sie viel zu aufrichtig, zu geradeaus – und zu selbstsicher. Gegen so jemand ist schwer anzukommen, wenn man jung ist. Junge Menschen können nichts schwerer ertragen als Eltern, die von ihrer Unfehlbarkeit überzeugt sind und aus ihrer Überlegenheit kein Hehl machen.«
»Ich bin mir
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