Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tödlicher Irrtum

Tödlicher Irrtum

Titel: Tödlicher Irrtum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
sie ein passendes Haus auf dem Land, ein neues, modernes Haus, in einer wahrscheinlich bombensicheren Gegend, in dem sie achtzehn Kinder unterbringen konnte. Die Kinder, die im Alter von zwei bis sieben Jahren waren, stammten oft nicht nur aus ärmlichen, sondern auch aus unglücklichen Elternhäusern. Einige waren Waisen, andere uneheliche Kinder. Vier der Kinder brauchten eine orthopädische Behandlung, und für sie wurde eine schwedische Krankengymnastin und Masseuse engagiert. Außerdem waren zwei Krankenschwestern und mehrere Dienstboten in dem Heim beschäftigt, das fast einem Luxushotel glich. Im weiteren Verlauf des Krieges wurden die Krankenschwestern für Lazarette angefordert, und die Dienstboten gingen in die Munitionsfabriken. Schließlich blieb nur Kirsten Lindstrom übrig, die sich nicht scheute, auch die Hausarbeit zu übernehmen. Rachel war glücklich und zufrieden, obgleich ihr die Kinder hin und wieder Sorgen bereiteten. Leo entsann sich, dass einmal einer der kleinen Jungen – es war Micky – an Appetitlosigkeit litt und ständig abnahm. Der Arzt konnte nichts feststellen, nahm jedoch zu Recht an, dass das Kind Heimweh hatte. Aber sie verwarf diese Diagnose entschieden.
    »Das ist unmöglich! Sie kennen sein ›Zuhause‹ nicht. Er ist herumgeschubst worden, schlecht behandelt. Es muss die Hölle gewesen sein für ihn.«
    »Mag ja sein«, hatte Dr. MacMaster eingeräumt. »Auf jeden Fall kommen wir nicht weiter, wenn der Kleine kein Wort sagt. Man müsste ihn zum Sprechen bringen.«
    Und eines Tages brach es aus Micky heraus. Schluchzend lag er im Bett und schrie, indem er Rachel mit den Fäusten wegstieß: »Ich will nach Hause. Ich will nach Hause zu meiner Mutter und zu Ernie.«
    Rachel war verwirrt, entsetzt – und wollte es nicht glauben.
    »Er kann nicht zu seiner Mutter zurück wollen. Sie hat sich einen Pfifferling um ihn geschert. Sie schlug ihn jedes Mal, wenn sie betrunken war.«
    Und er, Leo, hatte ganz leise gesagt:
    »Aber es ist doch nur natürlich, Rachel. Sie ist seine Mutter, und er liebt sie.«
    »Aber was für eine Mutter!«
    »Er ist ihr Fleisch und Blut. Das fühlt er. Und nichts wird ihm das ersetzen können.«
    »Von nun an«, hatte sie eigensinnig geantwortet, »wird er mich als seine Mutter betrachten.«
    Arme Rachel, dachte Leo. Arme Rachel, die so viele Dinge kaufen konnte… nichts für sich, keinen Luxus…, die unerwünschten Kindern Liebe zu geben vermochte, Fürsorge, ein Zuhause. Den Kindern konnte sie das alles kaufen – aber sich nicht deren Liebe. Bei Kriegsende wurden die meisten der Kinder nach London zurückgeschickt, zu ihren Eltern oder Verwandten. Aber nicht alle. Einige hatten Heim und Eltern verloren, andere waren zu Hause nicht mehr erwünscht.
    »Jetzt ist für uns der Augenblick gekommen, eine größere Familie zu gründen«, sagte sie damals. »Vier oder fünf der Kinder können bei uns bleiben, wir werden sie adoptieren und als unsere eigenen Kinder betrachten.«
    Er hatte leichtes Unbehagen verspürt; er hätte nicht einmal sagen können, weshalb. Er hatte keineswegs etwas gegen die Kinder, aber fühlte instinktiv, dass da irgendetwas falsch lief. Eine Familie ließ sich einfach nicht künstlich schaffen.
    »Hältst du das nicht für ein großes Risiko?«, fragte er.
    »Selbst wenn es ein Risiko wäre, würde ich es gern auf mich nehmen«, erwiderte sie. »Es ist die Sache wert.«
    Ja, das fand er auch – nur fehlte ihm ihre Sicherheit. Aber er hatte sich innerlich schon so weit von ihr entfernt, so in seine Arbeit vergraben, dass es ihm nicht mehr zustand, sich ihren Plänen zu widersetzen. Und wie so oft, sagte er auch diesmal:
    »Tu, was du für richtig hältst, Rachel.«
    Dabei ließ er es bewenden, und sie setzte, wie gewöhnlich, ihren Willen durch.
    Sie war glücklich, weil sie nun endlich die ersehnte Familie besaß: Mary, die älteste, die aus New York stammte, Micky, der sich nächtelang vor Heimweh in den Schlaf weinte, Tina, das graziöse Mischlingskind, deren Mutter eine Prostituierte und deren Vater ein westindischer Matrose war, und Hester, deren junge irische Mutter ein neues Leben beginnen wollte und sich deshalb von ihrem unehelichen Kind trennte. Nummer fünf war der kleine Clark mit dem schelmischen Gesicht eines Äffchens, der es immer verstand, sich der verdienten Strafe zu entziehen, und dem es gelang, sich selbst von der strengen Miss Lindstrom Süßigkeiten zu erschmeicheln. Clarks Vater saß im Gefängnis, und seine

Weitere Kostenlose Bücher