Tödlicher Irrtum
arme Gwenda ist verzweifelt. Ist dir das nicht aufgefallen?«
»Ich weiß wirklich nicht, warum ein Mann in Vaters Alter überhaupt wieder heiraten muss.«
»Er ist anderer Ansicht, aber er weiß, dass man ihm und Gwenda ein Motiv für den Mord unterschieben wird, wenn man sie für ein Liebespaar hält. Sehr peinlich!«
»Wie kannst du nur auf den Gedanken kommen, dass Vater Mutter umgebracht hat?«, empörte sich Mary entsetzt. »So etwas Furchtbares habe ich noch nie gehört!«
»Du scheinst keine Zeitungen zu lesen, Polly… Auch Micky macht einen besorgten, verbitterten Eindruck. Nur Tina scheint ein wirklich gutes Gewissen zu haben, allerdings verstand sie es schon immer, ihre Gefühle zu verbergen. Dann die arme, alte Kirsty…«
»Das wäre eine Idee«, meinte Mary etwas lebhafter.
»Kirsty?«
»Ja, sie gehört nicht zur Familie, und sie ist Ausländerin. Außerdem hat sie in den letzten Jahren unter schweren Migräneanfällen gelitten. Ich würde es eher für möglich halten, dass sie den Mord begangen hat als einer von uns.«
»Arme Kirsty«, bedauerte Philip die Schwedin. »Begreifst du nicht, dass sie sich das selbst sagen muss? Hast du nicht bemerkt, wie vergrämt sie aussieht? Sie ist in der gleichen Lage wie Hester. Was kann sie sagen oder tun? Wer wird ihr glauben? Und für sie ist das alles schlimmer als für uns, denn sie ist allein und hilflos. Wie kann sie ihre Unschuld beweisen?«
»Ich wünschte, du würdest dich nicht so aufregen, Philip. Wir können ja doch nichts tun.«
»Doch, wir können versuchen, die Wahrheit zu ergründen.«
»Auf welche Weise?« fragte Mary unsicher.
»Indem wir die Ohren offen halten, indem wir versuchen, die Reaktionen der anderen zu beobachten. Hast du nicht auch den Wunsch, den Unschuldigen zu helfen?«
»Nein«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Sie ging zu ihm und kniete vor seinem Stuhl nieder. »Ich möchte nicht, dass du dich einmischst, Philip. Ich flehe dich an, sei vorsichtig!«
Philip hob die Augenbrauen.
»Kommt Zeit, kommt Rat«, sagte er und legte eine Hand auf ihr goldblondes Haar.
Michael Jackson starrte in das dunkle Zimmer; er konnte nicht einschlafen.
Immer wieder kehrten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Warum konnte er sie nicht vergessen? Warum erinnerte er sich mit solcher Klarheit an das unordentliche, aber freundliche Zimmer in der Londoner Mietskaserne? An die wilden Spiele, an die anderen Kinder, an die Straßenjungenbande? An seine Mutter, an ihre wasserstoffblonden Haare, an ihre Fröhlichkeit, die so leicht in unbeherrschte Wut umschlug, wenn sie zu tief in die Ginflasche geguckt hatte? An die verschiedenen »Onkel«?
An seinen Vater konnte er sich nicht erinnern, der hatte Frau und Kind nach kurzer Ehe verlassen, aber ein »Onkel« war immer da, der ihn manchmal mit ins Kino nahm und ihm Süßigkeiten schenkte. Selbst Mutters Bratwürste mit Kartoffelbrei waren ihm noch deutlich in Erinnerung, und die sentimentalen Lieder, die sie sang, wenn sie am Herd stand und kochte.
Dann kam der Krieg und brachte neue, aufregende Ereignisse. Man wartete auf die Bombenflugzeuge, die Sirenen heulten, und alles strömte in die Untergrundbahn, um dort die Nacht zu verbringen. Bis spät nachts brausten die Züge durch den Bahnhof – ja, das waren noch Zeiten, aufregende Zeiten, und man selbst mittendrin.
Dann brachten sie ihn hierher – aufs Land, in dieses gottverlassene, langweilige Nest, wo sich nie etwas Interessantes ereignete.
»Wenn der Krieg vorbei ist, kannst du zurückkehren«, hatte seine Mutter ihm versprochen, aber es klang nicht sehr überzeugend, und er fühlte, dass ihr die Trennung von ihm nicht besonders schwer fiel. Andere Mütter waren zusammen mit ihren Kindern evakuiert worden, aber seine Mutter zog es vor, mit einem »Onkel« nach Nordengland zu fahren und dort in einer Munitionsfabrik zu arbeiten.
Im Sonneneck kam er sich vor wie ein Gefangener; er musste essen, was ihm vorgesetzt wurde, fade »gesunde« Kost, und um sechs Uhr steckten sie ihn bereits ins Bett und zwangen ihn, heiße Milch zu trinken und Zwieback zu essen!
Er lag oft lange wach, weinte und sehnte sich nach seiner Mutter und nach London.
Schuld an allem war diese Frau! Sie ließ ihn nicht mehr aus den Augen, sie behandelte ihn wie ein kleines Kind, spielte alberne Spiele mit ihm, verlangte etwas, das er ihr nicht geben konnte und wollte – Liebe und Zuneigung.
Er wartete nur auf den herrlichen Tag, an dem er nach
Weitere Kostenlose Bücher