Tödlicher Irrtum
Wie konnte man sich so völlig auf die Kinder – und nicht einmal die eigenen – konzentrieren und den Mann gänzlich vernachlässigen? Noch dazu einen so guten, prachtvollen Mann! Mrs Jackson bemerkte nicht einmal, was sich unter ihren eigenen Augen abspielte. Seine Sekretärin war ein hübsches Mädchen, das wusste, wie man einen Mann behandeln musste… Nun, Leo Jacksons Glück stand jetzt nichts mehr im Weg – oder doch? Würden die beiden es noch wagen, sich offen zueinander zu bekennen, nachdem der Schatten des Mordes wieder über dem Sonneneck lag?
Kirsten seufzte und dachte daran, dass sie einmal Liebe und Verehrung für Mrs Jackson empfunden hatte; sie konnte sich nicht genau an den Zeitpunkt erinnern, an dem sie begann, deren Fehler zu erkennen – ihre Selbstüberschätzung, ihre tyrannische Art, ihre unerschütterliche Überzeugung, stets das Richtige zu tun…
Aber wozu noch an Rachel Jackson denken? Sie war tot.
Kirsten musste an sich selbst denken – und an die anderen – und an das, was morgen vielleicht geschah.
Mary Durrant fuhr aus dem Schlaf auf.
Merkwürdigerweise hatte sie von ihrer Kindheit in New York geträumt. Wie alt war sie damals? Fünf Jahre, sechs Jahre?
Sie träumte, dass sie aus dem Luxushotel zurück in ihr ärmliches Heim geschickt wurde, dass die Jacksons nun doch ohne sie nach England fuhren. Wut und Ärger erfüllten sie, bis ihr klar wurde, dass es nur ein Traum war.
Es war wundervoll gewesen, in einem großen Auto zu fahren, in einem eleganten Hotel zu wohnen, ein herrliches Badezimmer zu haben, zu sehen, wie die reichen Leute lebten. Wie wunderbar, all das für immer behalten zu dürfen…
Tatsächlich war alles reibungslos gelaufen. Man hatte nichts von ihr verlangt, als ein wenig Zärtlichkeit – und das kleine Mädchen heuchelte Gefühle, die es nicht besaß, um sich so die reichen Eltern zu erobern, die es mit allem erdenklichen Luxus umgaben.
Für Mary war ein Märchen wahr geworden.
Schade nur, dass nach Kriegsausbruch so viele andere Kinder auf der Bildfläche erschienen. Nun, Mrs Jackson hätte in ihrer unersättlichen, fast animalischen Mutterbesessenheit wahrscheinlich ohnehin noch weitere Kinder adoptiert.
Mary empfand von jeher eine gewisse Verachtung für ihre Adoptivmutter. Wie hatte sie sich nur diese Kinder aussuchen können? Den verbrecherisch veranlagten Clark, die unausgeglichene Hester, den aufsässigen Micky und Tina, das Mischlingskind! Kein Wunder, dass sie alle missraten waren oder zumindest ständig rebellierten!
Allerdings – sie selbst hatte auch rebelliert. Sie dachte an ihr erstes Zusammentreffen mit Philip, dem gut aussehenden jungen Piloten, und an den Widerstand ihrer Mutter, die ihr dringend riet, nicht vor Ende des Krieges zu heiraten. Aber sie wollte nicht warten, sie konnte ebenso dickköpfig sein wie Mrs Jackson. Leo war auf ihrer Seite, sie heiratete Philip, und kurze Zeit später war der Krieg zu Ende.
Sie wollte ihren Mann ganz für sich haben, dem Schatten ihrer Mutter entkommen, aber das Schicksal war gegen sie. Philips geschäftliche Unternehmungen endeten alle mit Verlusten – dann kamen seine furchtbare Krankheit und die zurückbleibende Lähmung. Es war unvermeidlich, dass sie und Philip nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus ins Sonneneck zogen. Philip war bankrott und ihr Einkommen aus dem Trust nicht ausreichend, um einen eigenen Haushalt aufrechtzuerhalten. Ihre Bitte um eine höhere Monatsrente wurde abgeschlagen und der Beschluss gefasst, dass sie und Philip im Sonneneck leben sollten.
Aber sie wollte ihren Philip nicht mit Mrs Jackson teilen. Sie wollte nichts als ihren Mann – nicht einmal ein eigenes Kind.
Philip selbst empfand es nicht als Strafe, im Sonneneck zu wohnen, vor allem weil er sich sehr gut mit seinem Schwiegervater verstand.
Philip – warum benahm er sich so sonderbar? Weshalb bemühte er sich so verzweifelt, Dinge zu ergründen, die ihn nichts angingen?
Leo Jackson blinzelte in das fahle Licht der Morgendämmerung – endlich wurde es Tag.
Er hatte sich alles genau überlegt, er wusste, was ihm und Gwenda bevorstand. Nun wollte er die Sachlage vom Standpunkt der Polizei aus betrachten.
Gwenda hatte sich damals taktvoll ins Nebenzimmer verzogen, als er versuchte, Rachel zu trösten, ihr gut zuzureden, zu sagen, dass er ihr Recht gebe, dass es sinnlos sei, Clark wieder und wieder zu helfen, dass er diesmal die Folgen seines Handelns selbst tragen müsse. Als Rachel ihn
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