Tödlicher Irrtum
London zurückkehren durfte, nach Hause zu seinen Freunden, er träumte von den roten Autobussen, von der Untergrundbahn, von Bratwürsten mit Kartoffelbrei.
Micky Jackson stieß einen tiefen Seufzer aus.
Der Krieg war vorbei, einige Kinder bereits nach Hause gefahren, bald würde auch er… Und dann war sie aus London zurückgekommen… sie sagte, er dürfe weiter im Sonneneck bleiben, und von jetzt an sei er ihr kleiner Junge.
»Wo ist meine Mutti?«, fragte er. »Ist sie bei einem Luftangriff umgekommen?«
Es wäre erträglich gewesen, wenn sie von einer Bombe erschlagen worden wäre wie die Mütter einiger anderer, Kinder.
Aber sie war nicht tot, sondern nur sehr beschäftigt, und sie hatte keine Zeit, sich um ihren Jungen zu kümmern, deshalb würde Mrs Jackson von nun an seine Mutter sein.
Er verstand… seine Mutti liebte ihn nicht mehr… er musste im Sonneneck bei Mrs Jackson bleiben… für immer.
Er versuchte, etwas mehr herauszubekommen, und eines Tages hörte er eine Unterhaltung zwischen Mrs Jackson und ihrem Mann.
»Sie ist froh, ihn loszuwerden – gänzlich uninteressiert«, sagte Mrs Jackson, und dann war die Rede von einer Summe von hundert Pfund.
Nun wusste er, dass seine Mutter ihn für hundert Pfund verkauft hatte – welche Erniedrigung, welcher Schmerz; nie würde er darüber hinwegkommen. Und sie hatte ihn gekauft, sie, die Verkörperung von Reichtum und Macht, und er war ihr hilflos ausgeliefert. Aber eines Tages, wenn er erwachsen sein würde, wollte er sich an ihr rächen – er wollte sie töten.
Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, begann er, sich etwas wohler zu fühlen.
Während der Schulzeit war er nicht allzu unglücklich, aber er hasste die Ferien, die sie organisierte. Sie plante Ausflüge, sie machte ihm Geschenke, aber seine Liebe war nicht käuflich. Er hasste es, von ihr geküsst zu werden.
Auch später noch bereitete es ihm Genugtuung, ihre albernen Pläne für seine Zukunft zu sabotieren. Warum sollte er Bankangestellter werden oder im Büro einer Ölgesellschaft arbeiten? Er zog es vor, sich seinen Beruf selbst zu wählen.
Als er studierte, machte er den Versuch, seine Mutter wiederzufinden. Er entdeckte, dass sie seit Jahren tot war. Sie war durch die Schuld eines schwer betrunkenen Freundes in dessen Auto tödlich verunglückt.
Warum konnte er das alles nicht vergessen und sein Leben genießen? Er wusste es einfach nicht.
Und jetzt – was sollte jetzt geschehen?
Sie war tot – na und?
Daran zu denken, dass sie ihn für lumpige hundert Pfund gekauft hatte, dass sie alles kaufen konnte, Häuser und Autos und – Kinder… ganz wie Gott, der Allmächtige!
Gut, es gab sie nicht mehr. Nur ein Schlag auf den Kopf mit dem Feuerhaken, und ihre Leiche war eine Leiche wie jede andere. (So wie jene mit dem goldblonden Haar in dem demolierten Wagen auf der Landstraße…)
Sie war tot – warum also sich Gedanken machen?
Was war los mit ihm? War es – dass er sie nicht mehr hassen konnte, jetzt, da sie tot war?
Tot…
Er fühlte sich verloren ohne seinen Hass, verloren und – voller Furcht.
12
K irsten Lindstrom war in ihrem blitzsauberen Zimmer damit beschäftigt, ihr graublondes Haar zu bürsten und es in zwei unkleidsame Zöpfe zu flechten.
Sie war nervös und verängstigt.
Die Polizei hatte für Ausländer nicht viel übrig; sie wusste nicht, dass Kirsten, die nun schon seit so vielen Jahren in England lebte, sich als Engländerin fühlte.
Warum war dieser Dr. Calgary aufgetaucht, nachdem das Urteil längst gefällt worden war? Warum?
Sie dachte an Clark – an Clark, der schon als kleiner Junge ein Lügner war, der jedoch mit so viel Charme zu schwindeln wusste, dass man ihm nicht nur vergab, sondern sich auch noch bemühte, ihn vor der gerechten Strafe zu schützen. Manchmal log er so raffiniert, dass man ihm gar nicht auf die Schliche kam; ja, Clark konnte böse und sogar grausam sein.
Morgen – was würde morgen geschehen?
Die Polizei würde kommen, wieder würde die Stimmung sich verdüstern, wieder würden Verdacht und Misstrauen die Oberhand gewinnen. Es war ein Jammer, besonders weil sie die Familie von Herzen liebte, jeden Einzelnen so gut kannte, besser als Mrs Jackson, die in ihrer blinden Mutterliebe nicht imstande gewesen war, die Fehler der Kinder zu erkennen. Aber Kirsten wusste jedes von ihnen richtig einzuschätzen, sie kannte ihre Stärken und ihre Schwächen.
Es war nicht leicht, Frauen wie Mrs Jackson zu verstehen.
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