Toedlicher Irrtum
fünfhundert Personen. Zweiundzwanzig Todesfälle scheinen sehr viel zu sein, aber nicht unbedingt.«
Catherine zog eine Braue hoch. »Warum?«
»Im Sunny Day gibt es keinen durchgehenden ärztlichen Nachtdienst. In der Versorgung klafft eine Lücke von vier Stunden, in der nur eine Notbelegschaft vor Ort ist. Bei jeder Krise, die nach Mitternacht eintritt, müssen die Schwestern den Notarzt rufen, genau wie Sie es zu Hause täten. Ich und die Ärzte Todd Barclay, Claire Dayton und John Miller … wir sind die einzigen Vollzeitärzte im Stammpersonal.«
»Wie sind Ihre Schichten aufgeteilt?«, erkundigte sich Warrick.
»Wir haben zwei Schichten an sieben Tagen pro Woche«, erklärte Whiting. »Claire und ich sind ein Team, ebenso wie Todd und John. Wir machen drei Zehn-Stunden-Schichten und haben dann zwei Tage frei. Ein paar unserer Patienten werden von ihren eigenen Ärzten betreut … aber nicht viele.«
Vega runzelte die Stirn. »Sie arbeiten fünfzig Stunden in der Woche?«
»Plus Überstunden«, entgegnete Whiting. »Und davon gibt es mehr als genug.«
»Klingt brutal«, stellte Warrick fest.
»Das ist es«, stimmte Whiting zu.
»Wie war das mit dem langsameren Tempo, an dem Ihnen so viel liegt?«, fragte Catherine.
Ein Grinsen erblühte auf seinen Lippen – das erste Zeichen für Spontaneität dieses stets so kontrollierten Mannes. »Verglichen mit einer Privatpraxis, in der Tag für Tag dreißig oder vierzig Patienten abgefertigt werden müssen und mehrere hundert in der Woche? Da ziehe ich es vor, nur fünfzig Patienten zu behandeln, dieselben fünfzig Patienten, die ich gestern auch behandelt habe, und dieselben fünfzig Patienten, die ich auch morgen behandeln werde. Während ein Arzt mit einer Privatpraxis eine Kartei von über tausend Patienten führt, habe ich fünfzig, und darum kann ich auch beträchtlich mehr Zeit mit jedem einzelnen verbringen.«
»Und besser auf sie eingehen«, ergänzte Warrick.
»Viel besser«, stimmte Whiting zu. »Das Tempo hier ist ganz anders als das in einer Privatpraxis. Die große Mehrheit dieser Patienten verlässt Sunny Day nie, das dürfen Sie nicht vergessen. Wir bemühen uns, alles zu tun, um ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, bis sie, unverblümt gesagt, hinausgerollt werden.«
Vega klappte den Notizblock zu. »Wir melden uns später wieder bei Ihnen, Doktor.«
»Lassen Sie es mich wissen, falls ich Ihnen helfen kann«, sagte Whiting.
Die drei Ermittler gingen durch den Verwaltungsbereich und wieder durch einen der Korridore, die zu beiden Seiten von Krankenzimmern gesäumt wurden. Eine hübsche Afroamerikanerin in weißer Hose und geblümtem Kittel kam aus einem der Zimmer und studierte mit gesenktem Kopf ein Schriftstück, als sie geradewegs in Warrick hineinlief und das Schriftstück ihren Händen entglitt.
Warrick fing es auf.
»Oh, das tut mir Leid«, sagte sie. »Ich habe Sie gar nicht gesehen.« Ein anziehendes Lächeln kam zum Vorschein. »Gut gefangen.«
Catherine las das Namensschild der Frau. Kenisha Jones. Da Warrick direkt vor der Schwester stand, wartete Catherine darauf, dass er etwas sagen würde. Er tat es nicht. Stattdessen starrte er die Frau mit dem glasigen Blick eines Freiwilligen an, der sich von einem Hypnotiseur auf die Bühne hatte locken lassen.
Die Macht einer schönen Frau über einen Mann hatte Catherine von jeher amüsiert, und eine Weile hatte sie recht gut davon gelebt, sich diese männliche Schwäche zu Nutze zu machen. Da diese Frau wirklich schön war, konnte man Warricks Verhalten verstehen.
Der lange Hals – an dem ein Stethoskop baumelte – war graziös, und das anziehende Gesicht besaß volle Lippen, eine gerade Nase und große braune Augen. Aus dem hochgesteckten Schopf schwarzer Haare stachen kleine Löckchen hervor, die ihre Erscheinung noch reizvoller machten. Diese Medusa hatte Warrick augenblicklich in Stein verwandelt.
»Hey, kein Problem«, brachte Warrick endlich mühsam über die Lippen und gab ihr den Bogen Papier zurück, als überreiche er ihr eine Auszeichnung.
Vega trat vor und ließ seine Marke aufblitzen. »Kenisha Jones?«
Ihr Kopf ruckte zurück, und sie deutete auf ihr Namensschild. »Äh …ja.« Ihr Gesichtsausdruck deutete an, dass sie den Detective für leicht begriffsstutzig hielt.
»Ich bin Detective Vega, und das ist Catherine Willows von der kriminalistischen Abteilung. Warrick Brown haben Sie ja schon kennen gelernt – er gehört ebenfalls
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