Tödlicher Kick
breite Arbeitsfläche nicht wie eine Mauer zwischen uns stand.
Tatsächlich lockerte sich die Gesprächsatmosphäre. Im Gegensatz zu der Blondine mit den Kampftitten hatte die Chefärztin ganz offensichtlich Übung in Gesprächen mit Angehörigen sterbenskranker Patienten. Vielleicht hatte sie sogar das eine oder andere Seminar besucht, in dem die goldenen Regeln der Gesprächsführung erläutert wurden.
Wenn Regel Nummer eins Persönliche Atmosphäre durch Nähe erzeugen lautete, war Regel Nummer zwei wohl: Vertrauen durch Körperkontakt vermitteln, denn die Ärztin legte ihre Hand mitfühlend auf Danners.
»Die Einwilligung der gesetzlichen Betreuerin liegt ja bereits vor. Rechtlich spricht nichts dagegen, dass wir die Beatmungsmaschine heute noch abstellen«, sagte sie behutsam.
Danner nickte.
»Sie können Ihren Vater auf seinem letzten Weg begleiten, Ihre Tochter sollte allerdings besser draußen warten. Es kann unter Umständen zu einer Atempanik kommen, ein Anblick, den wir einem jungen Mädchen ersparen sollten.«
»Was ich mir erspare, entscheide ich gern selbst«, bemerkte ich freundlich.
Die Ärztin rutschte ein Stück zurück und die Gesprächsatmosphäre wurde wieder etwas unpersönlicher.
Danner winkte ab. »Ich hab sowieso nicht vor, meinem Vater die Hand zu halten.«
»Nein?« Skeptisch runzelte ich die Stirn. Hatte er sich das wirklich überlegt? Oder war das der nächste Versuch, der Situation zu entkommen?
»Glaub mal nicht, dass er das umgekehrt für mich getan hätte«, brummte Danner. »Und mein Bedarf an schlimmen Bildern ist für diese Woche bereits gedeckt. Ich verlasse mich einfach mal drauf, dass Sie schon wissen, was Sie tun, Frau Doktor Franzmann.«
Einfach nach Hause gehen konnte Danner dann allerdings auch nicht. Deshalb verbrachten wir die folgenden Stunden neben dem Kaffeeautomaten der Stroke Unit.
Danner streifte den Flur auf und ab, während mein Gehirn Schleifen drehte.
Oran Mongabadhis zerschossenes Gesicht, die Trennung von Danner, die Nacht im Bordell, die Angst, vergewaltigt worden zu sein, der Versöhnungssex, Danners Patientenverfügung und jetzt noch die Entscheidung, die lebenserhaltenden Maßnahmen bei seinem Vater zu beenden – es war in zu kurzer Zeit zu viel passiert, als dass ich es wirklich erfassen konnte.
Danner war am Fenster am Ende des Flures stehen geblieben.
Endlich trat die Chefärztin aus Zimmer 646. Danner fuhr zu eilig herum, um noch gleichgültig zu wirken.
»Mein Beileid«, sagte sie knapp. Mit einer Handbewegung deutete sie an, dass wir eintreten konnten.
Im Raum war es dunkel. Die Sonnenschutzjalousien waren halb heruntergelassen worden, die dünnen Vorhänge dämpften das Licht.
Vor allem aber war es ungewöhnlich still im Krankenzimmer. Sämtliche Maschinen waren ausgeschaltet. Kein Piepen mehr, das den Herzschlag begleitete, kein Pumpen und Zischen der gewaltigen Beatmungsanlage, kein Summen der mit Luft gefüllten Spezialmatratze.
Eine Krankenschwester strich gerade noch die Bettdecke glatt. Offensichtlich war aufgeräumt worden. Und gelüftet. Der Uringeruch war verflogen, ein nach Blumen duftendes Raumspray übertönte den beißenden Gestank der Desinfektionsmittel.
Mit geschlossenen Augen und geschlossenen Lippen lag der magere, alte Mann in den Kissen. Der unterhalb seines Kehlkopfes in seinen Hals geschobene Beatmungsschlauch war entfernt worden, eine Mullkompresse klebte auf der Öffnung. Seine zuvor schmerzhaft verkrampften Hände ruhten entspannt vor ihm auf der Decke.
Der Verstorbene wirkte ruhig und friedlich. Vielleicht war er absichtlich in diese Position gebracht worden, damit im Nachhinein keine Zweifel an der Entscheidung aufkamen.
Danner verharrte reglos vor dem Bett. Ich wusste nicht, ob ich ihn berühren sollte. Ich hatte keine Ahnung, wie man tröstete.
Nach ein paar Minuten wandte er sich ab.
Die Ärztin wartete auf dem Flur.
»Können Sie uns den Bestatter nennen, der sich der Sache annimmt, Herr Danner?«, ging sie zum geschäftlichen Teil der Angelegenheit über. »Sie haben sich doch sicher Gedanken über das weitere Vorgehen gemacht?«
Klang, als hätte sie diese Fragen schon unzählige Male gestellt, als würde sie einen Punkt auf der To-do-Liste nach Todesfällen abhaken. Maschinen abgestellt? Angehörigen ausreichend Zeit zum Trauern eingeräumt? Bestatter informiert?
Danner wirkte verwirrt.
»Wir melden uns bei Ihnen«, wimmelte ich die Medizinerin ab.
Es hatte wieder angefangen zu regnen,
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