Tödlicher Mittsommer
progressiv zu denken.
Nora hatte die Morgenfähre um zehn nach sechs genommen. Sie war noch müde, aber trotzdem war es ein richtig schönes Gefühl gewesen, so früh aufzustehen. Die Luft hatte so eine eigenartige Frische, wie es sie auf Sandhamn nur vor acht Uhr morgens gab. Es war herrlich, die reine Morgenluft einzuatmen und die Stille zu genießen, bevor der Schärengarten erwachte.
Die Jungs würden den Tag bei Oma und Opa verbringen, während sie in der Stadt war. Henrik hatte auf seinem Boot zu tun, wie üblich. Nora hatte sich vorgenommen, anschließend noch ein wenig durch die Geschäfte zu schlendern, wo sie schon einmal hier war. Es kam nicht sehr oft vor, dass sie Zeit für einen Stadtbummel hatte, und im Moment war gerade Sommerschlussverkauf.
Zu Henrik hatte sie gesagt, dass sie ins Büro müsse, um eine Sache zu klären. Es kam ihr nicht wie eine Lüge vor. Eher wie ein Hinauszögern der Wahrheit bis zu einem günstigeren Zeitpunkt.
Es konnte ja durchaus sein, dass der neue Job überhaupt nichts für sie war. In dem Fall hätten sie und Henrik sich völlig unnötig gestritten.
Die Empfangssekretärin führte sie in einen Konferenzraum, wo ein Tablett mit Mineralwasser und Kaffee bereitstand. Nora hätte beinahe laut aufgelacht, der Raum entsprach bis ins Detail ihren Erwartungen, wie es bei einem sogenannten Headhunter wohl aussah.
Auf dem Konferenztisch aus Mahagoni stand eine Vase mit einem wunderbaren Blumenstrauß. An den Wänden hingen Bilder mit schönen Motiven. Alles wirkte so gepflegt und gemütlich, dass man fast das Gefühl haben konnte, in einer Privatwohnung zu sein.
Nora überlegte, was wohl passieren würde, wenn sie hier jemandem über den Weg lief, den sie kannte. Vielleicht hatten sie noch andere Mitarbeiter aus der Rechtsabteilung der Bank zum Gespräch eingeladen. Es war bestimmt schon vorgekommen, dass sich Kollegen hier begegnet waren, wenn die Gespräche länger dauerten als geplant. Hoffentlich passierte ihr das heute nicht.
Als Rutger Sandelin zur Tür hereinkam und sie begrüßte, erkannte sie ihn sofort an seiner Stimme wieder.
Was für ein ungewöhnlicher Name. Rutger. Er klang englisch, nach einem Reiter. Sie hatte sich einen drahtigen Mann in Lederstiefeln und Reithosen vorgestellt. Stattdessen kam ihr ein sehr distinguierter Herr in den Sechzigern entgegen, mit graumeliertem Haar und leichtem Übergewicht.
»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind«, sagte er höflich. »Die Bank hat uns gebeten, Sie zu diesem Gespräch einzuladen, um ein objektives Bild Ihrer Qualifikation zu erhalten. Die Vergabe des Postens soll nicht durch interne Belange und Rücksichten beeinflusst werden.«
»Ich verstehe«, entgegnete Nora. Das klang natürlich einleuchtend.
Dann begannen sie, über die Arbeit in Malmö und die Qualifikationen zu sprechen, die die Funktion des verantwortlichen Justiziars für die Region Süd erforderte.
Während Nora seine Fragen beantwortete, bemerkte sie einen Fettfleck auf dem lila Seidenschlips, der farblich so auffallend gut zu seinem Hemd passte. Vermutlich ein kleines Malheur beim Frühstück, aber es machte ihn nur noch menschlicher, obwohl er selbst wahrscheinlich lieber auf den Fleck verzichtet hätte.
Nora beschrieb sich und ihre bisherige Laufbahn. Sie hatte Jura in Uppsala studiert und einer studentischen Verbindung angehört. Nach dem Studium hatte sie ihr Referendariat bei Gericht absolviert. Danach hatte sie als Trainee bei der Bank begonnen und sich anschließend auf ihre jetzige Position beworben.
Ihr beruflicher Werdegang stand in der Personalakte, aber erschien alles noch einmal genau wissen zu wollen, gerade so, als ginge es um einen völlig neuen Job außerhalb der Bank.
Nora musste außerdem auf die Frage antworten, was ihre Stärken und Schwächen seien und wie ihre Kollegen sie beschreiben würden. Sie musste Auskunft darüber geben, was sie schwierig und herausfordernd fand und wie sie mit Stress und Konflikten umging.
Im Stillen dachte Nora, dass es ziemlich unsinnig war, eine Mutter von kleinen Kindern zu fragen, wie sie Stress und Konflikte bewältigte. Wenn man das nicht beherrschte, würde man in der Familie keine Sekunde überleben. Es gab wohl keine Kinder, die sich nicht in regelmäßigen Abständen zankten.
Außerdem waren ein Vollzeitjob, zwei Jungs von sechs und zehn Jahren und eine nicht abreißende Zettelflut aus Schule und Hort über Ausflüge, Proviant und Geldsammlungen ein ganz hervorragender
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