Tödlicher Mittsommer
positiven Neuigkeit begonnen hatte, sich nur in eine solche Krise verwandeln?
Sie überlegte, ob sie Thomas anrufen sollte, schreckte aber instinktiv davor zurück, einen gemeinsamen Freund mit ihren Eheproblemen zu behelligen, auch wenn sie ihn schon so viele Jahre kannte.
Außerdem hatte Thomas im Moment genug mit der Mordermittlung zu tun. Er war völlig erschöpft gewesen, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.
Die Wut und der Schock über Henriks Reaktion drückten ihr wie ein Stein auf die Brust, sie konnte es beinahe körperlich spüren. Arme und Beine waren wie taub, und der Hals tat ihr weh, so als sei sie im Begriff, krank zu werden. Hinter den Lidern brannten die Tränen.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit Henriks harten Worten umgehen sollte. Wenn er es ernst gemeint hatte, hieß das wohl, dass sie den Job in Malmö abschreiben konnte. Oder sie musste überlegen, ob sie bereit war, ohne ihren Mann nach Malmö zu gehen.
Es tat viel weher, als sie sich je hätte vorstellen können.
War der Posten als verantwortliche Justiziarin für die Region Süd eine zerbrochene Ehe wert?
Natürlich nicht. Aber die Antwort war nicht selbstverständlich.
Während sie in die Küche ging und Henriks Lieblingswhisky hervorholte, um sich einen ordentlichen Schluck einzugießen, wünschte sie wieder einmal, dass sie dieses telefonische Angebot der Personalabteilung nie bekommen hätte.
Mit dem Glas in der Hand griff sie nach ihrer Segeljacke und ginghinunter zum Steg. Die Jungs schliefen tief und fest, sie konnte sie ruhig ein paar Minuten allein lassen. Sie setzte sich auf einen Stuhl und blickte aufs Meer hinaus. Normalerweise ging es ihr gleich besser, wenn sie am Wasser war. Schon der Anblick des spiegelglatten Meeres genügte, damit sich Frieden in ihr ausbreitete. Aber heute Abend half alles nichts.
Der Druck auf ihrer Brust war immer noch da.
Das Geräusch von Schritten auf dem Kies ließ sie zusammenzucken.
»Sitzt du hier ganz allein?«
Signe trat neben sie und blickte sie erstaunt an.
»Es ist so ein schöner Abend. Ich wollte mir den Sonnenuntergang ansehen.«
Noras tapferer Versuch, Signe anzulächeln, endete in einer Grimasse. Ohne dass sie es verhindern konnte, begannen die Tränen zu fließen.
»Aber liebes Kind, was ist denn passiert?«
Signe musterte Nora besorgt.
»Nichts, gar nichts, wirklich.«
Sie hörte selbst, dass sie nicht besonders überzeugend klang.
»Aber ich sehe doch, dass du etwas hast. Komm, erzähl mal, was los ist.« Signe setzte sich auf den Stuhl neben Nora und berührte ihren Arm. »So schlimm wird es doch nicht sein. Ist etwas mit Henrik? Wo treibt er sich überhaupt herum?«
»Er segelt.« Nora schluchzte auf. »Das Vierundzwanzigstundenrennen.«
Während die Tränen flossen, berichtete Nora, was am Abend vorgefallen war. Sie erzählte von dem neuen Job, von ihrem Besuch bei der Personalagentur und von Henriks Reaktion.
Signe betrachtete sie forschend. Die Sonne war untergegangen, lange Schatten krochen herauf. Nora konnte sehen, wie sich in Signes Augen die Sorgen eines ganzen Lebens spiegelten.
»Was willst du denn selbst?«
»Ich weiß nicht.« Nora zog die Nase hoch. »Doch, ich möchte, dass Henrik will, dass ich diesen Job annehme.«
»Und wenn er das nicht will?«
»Dann weiß ich nicht, was ich machen soll. Aber ich kann doch eine solche Chance nicht ausschlagen! Was würden sie in der Banksagen, wenn ich das täte? Und ich hasse es, für meinen jetzigen Chef zu arbeiten. Er ist ein Idiot.«
Die Tränen begannen wieder zu fließen.
»Ich werde es bis an mein Lebensende bereuen.«
Jetzt weinte Nora so sehr, dass es sie schüttelte.
Signe zog ein Taschentuch aus der Schürze und reichte es Nora.
»Schhh, ist ja gut«, sagte sie. »Ach Kind, es gibt so manches im Leben, was man bitter bereuen kann. Aber ich versichere dir, ein Jobangebot, das man ausschlägt, gehört nicht dazu.«
Signe sah sie mit unergründlicher Miene an. Vorsichtig streichelte sie ihr über die Wange.
»Du bist so jung. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir, und du hast deine beiden wunderbaren Söhne, über die du dich freuen kannst.«
»Tut es dir leid, dass du keine Kinder bekommen hast?«
Die Frage war Nora herausgerutscht, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte. Erschrocken blickte sie Signe an. Eine solche Frage hatte sie ihr vorher noch nie gestellt.
»Ach, weißt du, natürlich hätte ich gern eigene Kinder gehabt. Aber es kommt eben nicht immer alles so,
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