Tödlicher Mittsommer
auf den unebenen Stufen nicht stolpert.«
Nora nahm Simon fest an die Hand, als sie an der Reihe waren. Trotz der Sommerwärme war es im Turm kalt und feucht. Die Treppe war in vier Abschnitte mit jeweils einem Absatz dazwischen aufgeteilt, aber es war trotzdem ganz schön anstrengend, all die Stufen hinaufzugehen.
Die Tritthöhe waren außerdem etwas größer als bei normalenTreppen, deshalb mussten sie bei jedem Schritt die Knie ordentlich anheben. Einmal bogen sie falsch ab und kamen in einen toten Gang, der nirgendwohin führte.
Als sie fast oben waren, dachte Nora, dass man wohl eine deutlich bessere Konstitution brauchte, um nicht vor Anstrengung so außer Atem zu geraten wie sie. Nach all den Spaziergängen und Fahrradtouren in diesem Sommer, ganz zu schweigen von den Joggingrunden, hätte sie eigentlich trainierter sein müssen.
Nachdem der letzte Absatz geschafft war, kamen sie in einen kleinen Raum, in dem eine schmale Stiege aus weiß gestrichenem Gusseisen zur gläsernen Laternenkuppel hinaufführte, die die Spitze des Turms bildete. Am Fuß der Stiege befand sich eine grüne Tür, durch die man auf einen schmalen umlaufenden Söller hinaustreten konnte.
»Darf ich rausgehen, Mama?«
Simon sah Nora mit Bettelblick an.
»Ich auch?«, erklang Adams Stimme.
Nora öffnete die Tür und blickte hinaus. Der Abstand bis zum Erdboden war schwindelerregend. Sie drehte sich um und sah ihre Söhne streng an.
»Aber nur, wenn ihr ganz vorsichtig seid. Ich will hier oben keine wild herumspringenden Kinder sehen. Habt ihr mich verstanden?«
»Komm, Adam, du kannst meine Hand halten. In meinem Alter kann man gut einen jungen Mann gebrauchen, der einem hilft, das Gleichgewicht zu halten.«
Signe, die hinter Nora stand, streckte die Hand aus und hielt Adams Hand mit festem Griff, während sie auf den Söller hinausgingen.
Die Aussicht war fantastisch.
Es war ein klarer Tag, und so konnten sie weit bis aufs Meer hinaussehen. Die Hunderte von Inseln und Schären, die verstreut im Wasser lagen, waren unbeschreiblich schön. Am Horizont war der Leuchtturm von Almagrundet zu erkennen, obwohl er viele Seemeilen entfernt lag.
Unterhalb des Turms standen die alten Diensthäuschen, die vor einiger Zeit sorgsam renoviert worden waren. Dort hatten der Leuchtturmmeister, der Leuchtturmwärter und sein Gehilfe mit ihren Familien gewohnt.
Es war sicher ein karges und hartes Leben, nicht zuletzt für dieFrauen, dachte Nora. Alle Hausarbeiten mussten getan werden, ohne dass fließend Wasser oder elektrischer Strom zur Verfügung standen. Und außerdem musste das Leuchtfeuer während der dunklen Jahreszeit rund um die Uhr bewacht werden, ohne Rücksicht auf Wetterlage oder Gesundheitszustand.
Heutzutage konnte man sich kaum noch vorstellen, wie es möglich war, jahrein, jahraus unter solchen Verhältnissen zu leben. Ein Leben, dessen Höhepunkt vermutlich darin bestanden hatte, nach Sandhamn hinüberzufahren, das ja auch nicht mehr war als ein einsamer Vorposten im äußeren Schärengarten.
»Einzigartig, nicht wahr?« Signe drehte sich zu Nora um und seufzte hingerissen. »Ich komme schon hierher, seit ich ein kleines Mädchen war, und trotzdem kann ich mich an dem Ausblick nicht sattsehen.«
»Ich kann dir nur zustimmen«, sagte Nora und genoss es, die Landschaft um sich herum zu betrachten.
Ihre Reiseführerin war ebenfalls auf den Söller hinausgetreten und stützte die Arme auf das Geländer.
»Wusstet ihr, dass man die Granitblöcke für den Leuchtturm hier auf der Insel geschlagen hat, direkt aus den Klippen? Zusammengemauert wurden sie mit einer Mischung aus Ziegelgrus und Gotlandkalk. Deshalb sieht es von Weitem wie ein schönes Mosaik aus. Nur der mittlere Teil besteht aus Sandstein, und der stammt aus Roslagen.«
»Warum läuft um die Spitze ein Streifen aus Granit?«, erkundigte sich Nora.
»Dazu gibt es verschiedene Theorien. Die wahrscheinlichste ist, dass die letzten Sandsteintransporte nicht rechtzeitig ankamen und die Maurer nicht länger warten wollten. Da haben sie genommen, was gerade da war, also Granit«, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu.
»Faszinierend, dass man so ein hohes Bauwerk weit draußen im Schärengarten ohne moderne Technik errichten konnte«, sagte Nora.
»Noch faszinierender ist das, wenn man bedenkt, dass der ursprüngliche Bauplan eigentlich gar keiner war, sondern ein hübsches Aquarellbild«, sagte die Führerin.
»Was sagst du da, es gab keinen Bauplan?« Signe sah
Weitere Kostenlose Bücher