Tödlicher Ruhm
können sie nicht einfach ausgrenzen. Kelly war sehr beliebt, eine enorm populäre Kandidatin. Sie war tatsächlich die Mitbewohnerin des Volkes, und in gewisser Weise wurde das Volk ermordet.«
Es war ein brillanter, dreister Schachzug, bei dem manchem die Kinnlade herunterfiel, und er kam völlig überraschend. Jeder wusste, dass Geraldine und ihr Sender die Show wegen des Geldes fortsetzten. Aus keinem anderen Grund. Die nackte Wahrheit war, dass der Mord an Kelly Hausarrest von einer mittelmäßig erfolgreichen Sendung in einen Fernsehkoloss verwandelt hatte. Folge sechsundzwanzig der Staffel, die letzte vor dem Mord, hatte einen Publikumsanteil von siebzehn Prozent erreicht. Die eben gesendete Folge, die auch den Mord zeigte, war von fast achtzig Prozent der fernsehinteressierten Öffentlichkeit verfolgt worden. Beinahe die Hälfte der gesamten Bevölkerung. Für dreißigsekündige Einschübe in einer der drei Werbeunterbrechungen hatte man das Fünfzehnfache des normalen Preises berechnet.
»Weitere Sendungen zu verhindern wäre gänzlich elitär«, fuhr Geraldine fort. »Wir würden damit behaupten, wir wüssten, was für die Zuschauer gut ist. Wir, das Bildungsbürgertum, die großen, guten Allwissenden, entscheiden, was man den Proleten an vertrauen kann. Das ist in einer modernen Demokratie absolut inakzeptabel. Außerdem möchte ich Sie daran erinnern, dass dieser Vorfall bereits im Internet zu sehen war. Er ist längst Teil unserer Kultur. Er ist schon da draußen. Können Sie es gutheißen, wenn man Menschen, die keinen Computer besitzen, ihre Bürgerrechte aberkennt? Soll man ihnen ihre Möglichkeit zu trauern vorenthalten? Mit Kellys Tod zurechtzukommen, nur weil sie nicht online sind?«
Selbst den berühmten Dichter und Moderator brachten derart atemberaubende Darstellungen aus dem Gleichgewicht. Er beherrschte die Kunst, jedes Streitgespräch in den Dienst seiner Eigenwerbung zu stellen, musste aber nun feststellen, dass er nicht in derselben Liga wie Geraldine Hennessy spielte.
»Unsere Verantwortung der Öffentlichkeit gegenüber«, schloss Geraldine, »besteht darin, keine Verantwortung für die Öffentlichkeit zu übernehmen. Unsere Pflicht ist es, sie in die Lage zu versetzen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu entscheiden. Das können wir nur gewährleisten, indem wir weitersenden. Das ist verantwortlich und moralisch.«
Und ganz bestimmt wollte keiner der Diskussionsteilnehmer als elitär dastehen.
»Zweifellos müssen wir darauf hören, was die Menschen wollen«, sagte der Schattenminister. »Schon jetzt ist Kelly Simpson Teil ihres Lebens. Die Menschen haben gesehen, wie sie ermordet wurde. Sie haben das Recht, sich ihr Vermächtnis anzusehen.«
»Wie gesagt«, wiederholte Geraldine. »Man muss ihnen die Gelegenheit geben, zu trauern und gesund zu werden.«
Der berühmte Dichter unternahm einen letzten Versuch, den Eindruck zu vermitteln, er habe dieses Gespräch bis an diese Steh le gelenkt. »Wie ich — meine ich — angedeutet habe«, sagte er, »überschreitet dieses Ereignis den Rubikon auf dem Weg zur Demokratisierung menschlicher Erfahrungen. Schon hat uns Reality-TV gezeigt, dass Privatsphäre ein Mythos ist, ein unerwünschter Umhang, den die Menschen eifrig ablegen, wie schwere Kleider an einem Sommertag. Der Tod war die letzte wahrlich private Begebenheit, aber dank Hausarrest ist auch er es nun nicht mehr. In unserem offenen, leistungsorientierten Zeitalter ist kein menschliches Erleben als >besser< oder >bedeutender< anzusehen als ein anderes, und dazu zählt auch das Letzte, was geschieht. Hatte Kelly das Recht, lebendig gesehen zu werden, so müssen wir ihr fraglos auch das Recht zugestehen, im Tode gesehen zu werden.«
Geraldine hatte den Streit für sich entschieden, was ihrer Ansicht nach nicht anders zu erwarten gewesen war.
Die schlichte Wahrheit allerdings lautete, dass die Menschen es einfach sehen wollten, und es wäre sehr schwierig gewesen, ihnen diese Gelegenheit zu verweigern. Und das nicht nur in England. Sechsunddreißig Stunden nach dem Mord waren die Bilder in jedem einzelnen Land der Erde gesendet worden. Selbst das rigide kontrollierte chinesische Staatsfernsehen hatte dem Reiz dieses Beispiels ausgezeichneten Fernsehens nicht widerstehen können.
Die weltweite Publicity hatte im Büro von Peeping Tom einigen Frust mit sich gebracht, da das plötzliche internationale Interesse an Hausarrest
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