Tödlicher Ruhm
Zehn-Sekunden-Ausgabe des Augenblicks, in dem sich das Tuch hob und senkte, eine sinnlose Vorsichtsmaßnahme, da die Bilder bereits endlos in den Nachrichten gelaufen waren. Außerdem zeigte man in der Sendung die Rückkehr der Kandidaten in ihr Haus, um damit der Chronologie Genüge zu tun. Allgemein wurde das Ganze als ausgezeichnetes Fernsehen gefeiert. Um sich von aller Kritik und Verantwortung freizusprechen, übertrug der Sender unmittelbar nach der Sendung eine Live-Diskussion (in der neben diversen Repräsentanten des Reinen und Guten auch Geraldine Hennessy auftrat) zu der Frage, ob es moralisch vertretbar sei, die Staffel überhaupt weiterzuführen.
»Ich fürchte, was wir eben gesehen haben, war deprimierend unausweichlich«, sagte der Moderator, ein berühmter Dichter. Berühmt, wie Geraldine ihm später in der Kantine erklären sollte, vor allem dafür, dass er an Diskussionsrunden teilnahm.
»Reality-TV wie man es nennt«, leierte der berühmte Moderator gerade, »ist eine Rückkehr zu den Arenen der Gladiatoren im alten Rom. Was wir dort sehen, ist Konflikt, ein Konflikt unter gefangenen und verzweifelten Antagonisten, die um die Gunst der johlenden Menge buhlen. Wie Plebejer aus alten Zeiten heben oder senken wir die Daumen, um dem Sieger zu huldigen und den Besiegten zu verdammen. Der einzige Unterschied liegt darin, dass wir es heute per Telefonabstimmung tun.«
Geraldine rutschte auf ihrem Sitz herum. Sie mochte es nicht, wenn vermeintliche Intellektuelle von der Populärkultur lebten und sie gleichzeitig salbungsvoll verdammten.
»Ich persönlich«, fuhr der Moderator fort, »bin eher erstaunt, dass es so lange gedauert hat, bis Mord in dieser Art der Unterhaltung zur Taktik wurde.«
»Ja, aber rechtfertigt das eine solche Sendung?«, warf der Innenminister des Schattenkabinetts ein, der ärgerlich war, weil die Diskussion schon seit über zwei Minuten lief und er noch nicht zu Wort gekommen war. »Ich sage: mitnichten! Wir müssen uns fragen, in was für einem Land wir leben wollen.«
»Und in dieser Hinsicht würde ich Ihnen Recht geben«, konterte der berühmte Dichter, »aber haben Sie den Mut, dem Mob die Stirn zu bieten? Das Volk braucht Brot und Spiele.«
Geraldine kämpfte gegen den überwältigenden Drang an, eine Schimpfkanonade unterhalb der Gürtellinie loszulassen, und beschloss, sich vernünftig zu geben. Dies war schließlich der Grund, weshalb sie in diese Sendung gekommen war. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war, an diesem entscheidenden Punkt ihrer Karriere keinen Sendeplatz mehr zu bekommen. »Hören Sie«, sagte sie. »Was da passiert ist, gefällt mir ebenso wenig wie Ihnen.«
»Ach ja?« Der Dichter rümpfte die Nase.
»Die Wahrheit ist doch: Wenn wir es nicht machen, macht es einer von den Billigsendern. In dem Moment, als die Kandidaten die Sendung fortsetzen wollten, hatten wir in dieser Sache keine Wahl mehr. Hätten wir uns geweigert weiterzumachen, hätte irgendjemand den ganzen Haufen eingesackt und meistbietend verhökert. Kabel oder Satellit vermutlich. So eine Show könnte Sender wie die mitten in den Mainstream treiben.«
»Sie hätten ihnen den Zutritt zum Haus verweigern können«, unterbrach der berühmte Gastgeber.
»Auf dem europäischen Festland stehen momentan zahllose ähnliche Häuser leer«, sagte Geraldine. »Ich meine gesehen zu haben, dass das holländische Original im Internet zum Verkauf stand, samt Kameras und allem. Das wäre perfekt gewesen. Abgesehen davon ist doch einfach nicht zu übersehen, dass man diese Leute in eine Gartenlaube setzen könnte, und das Publikum würde sie sich trotzdem ansehen.«
»Weil einer davon ein Mörder ist«, warf der Schattenminister ein. »Da kann man sich an Blut und Eingeweiden ergötzen. Nur wollen wir doch nicht vergessen, Miss Hennessy, dass ein Mädchen umgekommen ist.«
»Niemand vergisst es, Gavin, aber nicht jeder versucht, politisches Kapital daraus zu schlagen«, konterte Geraldine. »Es gibt hier ein ehrliches allgemeines Interesse an etwas, das — wenn man es genau betrachtet — ein großes öffentliches Ereignis darstellt. Die Zuschauer sehen sich — und meiner Ansicht nach berechtigterweise — als Beteiligte an diesem Mord. In mancherlei Hinsicht fühlen sie sich mitverantwortlich. Sie sind schockiert und traumatisiert. Sie trauern und müssen sich erholen, gesund werden. Sie müssen Kontakt halten zu dem, was geschieht, um mit diesem Gesundungsprozess zu beginnen. Wir
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