Tödlicher Ruhm
sich wieder der jungen Frau auf dem Bildschirm zu.
»Die kleine Dervla ist also mit der rein intellektuellen Absicht in das Haus gegangen, Fallstudien zum Thema Stress zu betreiben?«
»Ja«, sagte Trisha und deutete auf ihre Akte zu Dervla, »ihrer Ansicht nach bietet der Nominierungsprozess mit seinen unvermeidlichen Gewinnern und Verlierern eine großartige Möglichkeit, menschliche Reaktionen auf Isolierung und Zurückweisung zu studieren.«
»Ausgesprochen lobenswert, muss ich sagen.«
»Und außerdem sagt sie, sie möchte >eines Tages Fernsehmoderatorin werden<.«
»Und wieso überrascht mich das nicht?« Coleridge trank seinen Tee und sah zum Bildschirm. »Ein Haus, zehn Kandidaten«, sagte er wie zu sich selbst. »Nur einer überlebt.«
30. Tag 7:00 Uhr
Es war der dritte Tag nach dem Mord, und Coleridge fühlte sich, als hätten seine Ermittlungen kaum begonnen. Die Durchsuchung des Hauses hatte keine brauchbaren Beweise zu Tage gefördert, die Vernehmung der Verdächtigen hatte nichts als Schock und Betroffenheit erbracht, die Leute von Peeping Tom hatten nicht einmal den Hauch eines Motivs zu bieten, und Coleridge und sein ausgezeichnetes Team waren dazu verdammt, vor einem Fernseher herumzusitzen und wilde Vermutungen anzustellen.
Coleridge schloss die Augen und atmete ganz langsam. Konzentrieren... er musste sich konzentrieren, den Sturm vergessen, der um ihn tobte, und sich konzentrieren.
Er versuchte, sich von allem loszumachen, sämtliche Gedanken und vorgefassten Meinungen abzuschütteln, sich in ein leeres Blatt Papier zu verwandeln, auf das eine unsichtbare Hand die Antwort schrieb: Der Mörder ist... Aber es fiel ihm keine Antwort ein.
Es schien nicht einmal glaubhaft, dass es überhaupt einen Mörder gab, und doch hatte ganz zweifellos ein Mord stattgefunden.
Wie war es möglich, mit einem Mord in einem gänzlich abgeschlossenen Raum davonzukommen, der von Fernsehkameras und Mikrofonen überwacht wurde?
Acht Mitarbeiter hatten die Bildschirme im Monitorbunker im Blick gehabt. Ein weiterer war noch näher dran gewesen und hatte hinter den einseitig durchsichtigen Spiegeln in den Kameragängen gestanden, von denen das Haus umgeben war. Sechs weitere Leute hatten in dem Raum gesessen, den der Mörder verlassen hatte, um sein Opfer zu verfolgen. Sie saßen noch immer dort, als er kurz darauf zurückkam, nachdem der Mord geschehen war. Etwa siebenundvierzigtausend Zuschauer hatten live über einen Internetlink zugesehen, den Peeping Tom seinen besessensten Fans zur Verfügung stellte.
All diese Leute waren Zeugen des Mordes gewesen, und doch hatte der Mörder sie irgendwie ausgetrickst.
Coleridge spürte, wie sich die Angst in seinem Inneren breit machte. Die Angst, dass seine lange und mehr oder weniger erfolgreiche Karriere mit einem spektakulären Misserfolg enden sollte, einem weltumspannenden Misserfolg, denn inzwischen war der Fall auf dem ganzen Planeten bekannt. Jeder hatte eine Theorie... in jedem Pub, jedem Büro, jeder Schule, an jedem Nudelstand in Downtown Tokio, jedem türkischen Bad in Istanbul. Stunde um Stunde wurde Coleridges Büro mit Tausenden von E-Mails bombardiert, in denen erklärt wurde, wer der Mörder war und weshalb er oder sie es getan hatte. Überall tauchten Kriminologen und Klugscheißer auf — in den Nachrichten, in den Zeitungen, online, in allen Sprachen. Buchmacher nahmen Wetten an, Spiritisten sprachen mit dem Opfer, und das Internet drohte, ob der Masse an »Webheads« zu kollabieren, die miteinander Theorien tauschten.
Tatsächlich schien der einzige Mensch, der nicht einmal den leisesten Schimmer hinsichtlich der Identität des Mörders hatte, Inspector Stanley Spencer Coleridge zu sein, der für die Ermittlungen zuständige Polizeibeamte.
Er lief durchs Haus und versuchte ein Gefühl für dessen Geheimnis zu bekommen. Flehte es an, ihm einen Hinweis zu geben. Natürlich nicht das richtige Haus. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit dort nach einem Tag beendet und es anschließend den Besitzern wieder überlassen müssen. Es handelte sich um eine Kopie des Hauses, die Peeping Tom Productions der Polizei bereitwillig zur Verfügung stellte — die Version aus Gipsplatten und Klebstoff, in der die Produzenten monatelang mit Kameras geprobt hatten, um sicherzugehen, dass man sich wirklich nirgendwo verstecken konnte. Dieses nachgebaute Haus besaß weder ein Dach noch sanitäre Anlagen, ebenso wenig wie einen Garten, aber im Inneren waren sämtliche
Weitere Kostenlose Bücher