Tödlicher Staub
denn der Entseuchungstrupp vergrub den Kadaver sofort tief in der Erde innerhalb des abgesperrten Geländes der Plutoniumfabrik, denn erste Anzeichen, vor allem die gemessene Verstrahlung, überzeugte den Leiter der Seuchenabteilung, daß der Kater radioaktiven Abfall gefressen hatte. Er war eines der vielen Tieropfer, die man in Krasnojarsk fand.
Die Witwe Eftimia schrie, sie könne nicht mehr lange leben ohne ihren Kater, und außerdem hatte man alle ihre Möbel samt dem Bett mitgenommen und ebenfalls verbrannt. Nun wohnte sie bei gütigen Nachbarn, bis sie ein neues Bett kaufen konnte, das ein Dreifaches ihrer Pension kostete. Sie verfluchte die gesamte Atomindustrie, aber auch das war nichts Neues. In Krasnojarsk fluchten alle, aber sie lebten vom Werk 26. Hunderttausend Menschen verdienten dort ihre Kascha und ihre Pelmeni und zitterten davor, daß man die Krasnojarsker Atomreaktoren bis auf ein Minimum zurückfahren würde. Dann lieber die Fäuste in den Taschen ballen und innerlich fluchen … die Angst vor der Arbeitslosigkeit war stärker als die Furcht vor der Verstrahlung.
So sehr Nikita Victorowitsch Suchanow von Wawras Unschuld überzeugt war – Sybin war es nicht. Er hörte sich den Bericht über die Katze an, ließ Nikita ausreden, und als dieser nichts mehr zu sagen hatte, brüllte er ihn an.
»Der verdammte Kater ist tot. Gut! Es war reines Plutonium? Ist anzunehmen. Warum aber lebt Wawra noch, wenn du ihr regelmäßig das Pulver in das Essen getan hast? Das habe ich dich immer wieder gefragt! Was Wawra geschluckt hat – falls du mich nicht belügst! –, reicht aus, Hunderte von Menschen zu töten! Erklär mir das!«
»Sie sagt, sie läßt sich jeden Tag nach Arbeitsschluß entgiften.«
»Äußerlich, du Idiot! Aber nicht innerlich, da zersetzen sich die Organe – es gibt keine Rettung! Aber Wawra lebt!«
»Ich habe keine Erklärung dafür, Igor Germanowitsch«, stotterte Nikita. Er war dem Weinen nahe.
»Weil sie dich betrügt, das sage ich dir immer wieder, und du begreifst es nicht! Es ist Puderzucker, was du ihr in den Tee rührst.«
»Die Katze hat dasselbe Pulver …«
»Schluß mit dem Kater! Ich will, daß Wawra endlich stirbt!«
»Sie ist unschuldig! Sie ist rehabilitiert! Sie hat uns nicht betrogen. Sie ist die ehrlichste Frau, die es gibt.«
»Kein Wort mehr! Bring sie um!«
»Ich habe Beweise, daß …«
»Nichts hast du! Ich aber habe den Beweis, daß du ein Arschloch bist!«
»Ohne Wawra gibt es für mich kein Leben mehr. Ohne sie ist um mich sibirische Dunkelheit. Wenn sie sterben muß, gehe ich mit ihr.«
»Das wäre für niemanden ein Verlust. Nikita, ich erwarte deine Vollzugsmeldung. Zum letzten Mal: Ich will …«
»Igor Germanowitsch!« brüllte Nikita dazwischen. Er war schweißüberströmt und zitterte am ganzen Körper. »Wenn Wawra tot ist, wer soll dann das Plutonium liefern?«
»In Moskau bekomme ich Puderzucker billiger.«
Sybin beendete das Gespräch, indem er auf den Hörer spuckte. Nikita weinte, legte sich auf das Sofa und dachte heftig zitternd nach, wie er Wawra und sich selbst am schmerzlosesten umbringen könnte. Er war fest entschlossen, seinem Leben ein Ende zu machen, wenn er Sybins Befehl ausführte. Ohne Wawra zu leben, immer mit der Schuld herumzulaufen, sie getötet zu haben – das würde er nicht aushalten. Er war ein williger ›Regionalgeschäftsführer des Konzerns‹, aber kein eiskalter Mörder. Er schlug sich nicht mit Skrupeln herum, wenn es galt, andere Menschen zu betrügen oder ihnen zu drohen … die Ausführung der Drohung überließ er dann den ›Spezialisten‹, die aus Moskau oder Irkutsk anreisten und nach der Ausführung ebenso schnell wieder verschwanden. Spurlos. Nicht einmal ihre Vornamen kannte Nikita.
Wen wundert es, daß in Rußland nur zögernd Statistiken über das Anwachsen der Kriminalität seit Glasnost und Perestroika veröffentlicht werden? Und wenn man Zahlen hört, sind sie geschönt, und sie erfassen auch nur die Verurteilungen, nicht die Straftaten, die bekannt werden. Zuletzt sprach man von zweiundzwanzigtausend Morden, zweihundertsiebzigtausend Diebstählen, über neuntausend Fällen von Schwarzbrennerei, wobei der höllische Samogon hergestellt wurde, bei denen die Täter wegen Verbrechen gegen die Volksgesundheit zum Tode verurteilt wurden, und von zweiunddreißigtausend Rauschgiftdealern. Aber alle diese offiziellen Zahlen stimmen nicht. Man weiß, daß im neuen Rußland über hunderttausend
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