Tödlicher Staub
Rauschgifthändler unterwegs sind, daß jährlich über tausendzweihundert Todesurteile ausgesprochen werden, vor allem gegen Mörder, Drogenhändler und Mitglieder der organisierten Kriminalität, die sich, wie die italienische Mafia, zu Familien zusammenschließen. Die russische Polizei hat mittlerweile über zweihundert ›Familien‹ ermittelt, die über eigene, gutausgebildete Schutztruppen verfügen, vor allem aber über Killerkommandos, gegen deren Grausamkeit die italienischen Mafiosi geradezu bescheiden wirken.
Das größte Problem aber ist in Rußland der Alkohol. Registriert sein sollen knapp fünf Millionen suchtkranke Alkoholiker, aber die Wahrheit ist weit schrecklicher: Nach Schätzungen soll es im heutigen Rußland über fünfundfünfzig Millionen chronische Säufer geben, die alles in sich hineinschütten, seit Gorbatschow seinen Krieg gegen den Alkohol ausgerufen hat: vom Selbstgebrannten, dem teuflischen Samogon, bis zu alkoholhaltigen Parfüms und Polituren. Die Fälle von schweren Vergiftungen mit Todesfolge steigen von Monat zu Monat. Und über zweihunderttausend Schwarzbrenner sorgen ständig für Nachschub. Gorbatschows Anti-Alkohol-Kampagne zeigte wenig Wirkung. In einem Jahr wurden über zweieinhalb Millionen Liter schwarzgebrannter Wodka von der Polizei beschlagnahmt, und hier jubelten die Statistiker, die ebenfalls unter dem Alkoholverbot litten wie alle Russen, denn dem russischen Staat gingen an Steuern pro Jahr hundertzwanzig Milliarden Mark verloren! Wer kann das verkraften? Auch die Arbeit litt darunter, denn ein altes russisches Sprichwort besagt: »Ohne Wodka findet man sich nicht zurecht!«
Das ist es, dachte auch Nikita Victorowitsch über seinen Entschluß, zusammen mit Wawra zu sterben. Nicht warten, bis Sybin sein Killerkommando nach Krasnojarsk schickte, sondern sich vorher zu Tode saufen. Das wäre ein anständiger Tod für einen aufrechten Russen, denn schon Wladimir der Heilige sagte 988: »Trinken ist Rußlands Freude – wir können nicht ohne es sein.«
Nikita begann noch am selben Tag, Wodka zu sammeln. Er kannte eine Reihe von Schwarzbrennern in Krasnojarsk, die alle unter der Kontrolle des ›Konzerns Nr. II‹ standen und an ihn ihre Abgaben leisteten. Sie empfingen Nikita mit Ehrfurcht … auch wenn er nicht zu Nr. II gehörte, so war er doch ein angesehenes Mitglied der ›Zwölfergruppe‹, also einer der Statthalter, die man lieben und fürchten mußte. Es war für ihn nicht schwierig, im Handumdrehen zwanzig Flaschen Samogon zu bekommen, die zwei Elefanten hätten vergiften können. Er bekam sie sogar geschenkt. Wie kann man einem Herrn Suchanow Rubel abnehmen für ein paar Fläschchen russisches Wässerchen? Es ist doch eine Ehre, daß er die Brennerei überhaupt betritt.
Mit seiner Beute – es waren fünfundzwanzig Flaschen Samogon – kehrte Nikita in seine Wohnung zurück und wartete auf Wawras Rückkehr von der Arbeit. Um sich einzustimmen, trank er vorweg zwei Gläschen und rang nach Luft, als der hochprozentige Wodka durch seine Kehle rann. Dann betrachtete er die Batterie von Flaschen, die er auf dem Deckel einer alten, geschnitzten Truhe aufgereiht hatte.
Das also ist das Ende, dachte er. Sich gegen Sybin zu wehren, ist sinnlos. Noch idiotischer wäre es, vor seinem ›Sonderkommando‹ davonzulaufen. Die Killer kämen völlig unerwartet, würden in die Wohnung eindringen und ihn und Wawra im Bett mit Kugeln durchlöchern. Das ginge zwar schnell und war nur einen Augenblick lang schmerzhaft, aber es wäre für Nikita kein ehrenvoller Tod. Sich im Wodka zu ertränken, das war ein angemessener Abgang.
Und so wartete nun Nikita Victorowitsch auf Wawras Rückkehr aus der Atomfabrik Krasnojarsk-26. Um seine Todesangst – wer hätte sie nicht, auch wenn er sich mit Wodka umbringen will? – etwas zu dämpfen, trank Nikita noch zwei Gläschen und legte eine Schallplatte auf den Plattenspieler: Tschaikowskys ›1812‹, gespielt vom Moskauer Sinfonieorchester unter der Leitung von Kyrill Kondraschin. Die gewaltige vaterländische Musik vom Sieg des Zaren über Napoleon und den Untergang der Grande Armée und der Befreiung Moskaus beruhigte seine angespannten Nerven. Es fiel ihm jetzt leichter, zu sterben, und er überlegte, ob er diese Platte nicht auch während seines Wodkatodes spielen sollte.
Spätabends, viel später als üblich, kam Wawra Iwanowna nach Hause. Sie wirkte fröhlich und umarmte und küßte Nikita und zwang ihn, sich ein paarmal mit
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