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Tödlicher Staub

Tödlicher Staub

Titel: Tödlicher Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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nachgeben, sich öffnen und den verliebten Idioten mit Haut und Haaren fressen. Die Vernunft heraussaugen, und übrig blieb ein Häufchen Mensch, das kein Ich mehr hatte.
    Natalja Petrowna hatte schon am dritten Tag entdeckt, daß sie neben ihrer Tanzbegabung auch singen konnte. Sie hütete sich, ihre Künste aus dem Moskauer Club Tropical aufzufrischen, nackt vor Madames Gästen zu tanzen und ihre geile Bärchennummer abzuziehen, die Ducoux völlig um den Verstand gebracht hätte. Sie tanzte züchtig mit den verschiedenen Männern, Konsuln, Senatoren, Millionären, Konzernchefs und Diplomaten, auch ein berühmter Schriftsteller war darunter, der Bücher voller Moralpredigten schrieb, aber wöchentlich dreimal im ›Roten Salon‹ erschien und eines von Madames barbusigen Mädchen nach oben aufs Zimmer begleitete. Den größten Erfolg hatte Natalja, als sie ihre bisher unbekannte Begabung entdeckte.
    Ihr erster Auftritt war eine Sensation. Sie kam an diesem Abend in einem russischen Kostüm in den ›Roten Salon‹, einem Kostüm, das an die Kosaken erinnerte, nur trug sie keine Hosen und Stiefel, sondern einen superkurzen, engen Rock, der mehr als die Hälfte ihrer schlanken Oberschenkel unbedeckt ließ. Bei einigen Bewegungen konnte man sehen, daß sie ein blutrotes Höschen trug.
    »Meine Lieben«, begann sie mit ihrer klingenden Stimme, »ich möchte Ihnen heute einige Lieder aus meiner Heimat vorsingen. Warum? Haben Sie schon mal einen Russen gesehen, der in der Fremde kein Heimweh hat? Ich träume jede Nacht von meinem schönen Land, von seinen Birkenwäldern, den Sonnenblumenfeldern, der unendlichen schweigenden Taiga, den großen Strömen, dem grenzenlosen Himmel über den Steppen, den blauen Seen, den bemalten Holzhäusern und den wogenden Weizenfeldern, die unter der Sonne golden leuchten. Ich habe Sehnsucht nach meinem Rußland, sonst wäre ich keine Russin. Und deshalb möchte ich heute von dieser Liebe zu Mütterchen singen und mein Herz auf meiner Zunge tragen.«
    Sie hatte eine Balalaika mitgebracht, die sie sich am Nachmittag gekauft hatte, zupfte ein paar Takte und begann dann zu singen. Sie saß auf der Treppe, auf dem roten Teppich, und es war fast das gleiche Rot wie der Slip, der zwischen ihren Schenkeln hervorschimmerte.
    Was sie sang, verstand niemand, aber was sind Worte, wenn sie eingebettet sind in diese schwermütige Musik, in der die Weite des Landes widerklang und das Rauschen der Taiga hörbar wurde.
    Im ›Roten Salon‹ war es so still, das jeder glaubte, seinen eigenen Herzschlag zu hören. Einige Damen begannen sogar, lautlos zu weinen … wie alle anderen im Salon spürten sie das Heimweh, das in Nataljas Gesang mitschwang. Sie erzählte das Märchen vom eisigen Ritter, von der Not der Wolgaschlepper, von einer Nacht am Lagerfeuer in der Steppe am Ussuri und von einem Erntedankfest auf den Kornfeldern Kasachstans, und sie sang von der traurigen Liebe eines Mädchens am Baikalsee, das auf ihren Liebsten wartete, der vom Fischfang nicht mehr zurückkam, und von dem Fluß, der das Gebet eines Mädchens nach Wasser erhörte und seinen Lauf änderte … Lieder, die mit ihrer Melodie in ein Land entführten, das grenzenlos war wie die Wunschträume seiner Menschen.
    Auch nachdem Natalja geendet hatte, blieb es still im Raum. Niemand applaudierte, niemand wagte es, zu klatschen – man griff schweigend zu seinem Champagnerglas, und als ein Gast, ein Generalkonsul, in ein Brötchen biß und es leise knirschte, trafen ihn strafende Blicke.
    Madame de Marchandais umarmte Natalja und drückte sie an sich. »Fabelhaft, mein Kind«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Das war eine blendende Idee. Du singst jetzt jeden Abend, ja? Tu mir den Gefallen. Das wird sich in Paris schnell herumsprechen und meinen Zirkel erweitern. Du bist ein Goldstück, Natalja! Auch ich konnte die Tränen nicht zurückhalten.«
    »Ich habe wirklich Heimweh, Madame.«
    »Man hat es gehört, und jeder hat es gefühlt. Wo hast du so schön singen gelernt?«
    »Ich habe es vorgestern erst entdeckt.« Natalja lächelte schwach. »Es ist zwar ein uralter Witz, aber hier stimmte er: Ich habe in der Badewanne gesungen und war erstaunt, wie gut es klang.«
    »Und da kam dir die Goldidee!«
    »Genau.«
    »Und sie hat eingeschlagen. Kindchen, sing weiter … Morgen abend wieder.«
    »Ich werde es mir überlegen, Madame.«
    »Bitte … und sag Louise zu mir.«
    Sie drückte Natalja noch enger an sich und küßte sie. Das löste den Bann

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