Tödlicher Staub
einem großen Trog können mehrere Pferde trinken.
Zwei Tage nach dem Fall der Berliner Mauer traf General Petschin als harmloser Zivilist in Moabit, in der beliebten Kneipe Zum dicken Adolf, zwei sehr seriös aussehende Herren: den Rechtsanwalt Dr. Paul Sendlinger und den Major der Stasi Ludwig Waldhaas. Zu ihnen gesellte sich auch der Wirt, Adolf Hässler, ein ziemlich fülliger Mann, der dem Namen seiner Kneipe alle Ehre machte.
Aber das war ein Zufall. Die typische Moabiter Gastwirtschaft existierte schon seit über zweiundsiebzig Jahren und war weithin bekannt geworden, als 1934 das Gewerbeamt unter seinem neuen NSDAP-Direktor verlangte, den Namen zu ändern. Weg mit dem Adolf und erst recht mit dem ›dicken‹, man schlug statt dessen, im Hinblick auf die lange Tradition der Kneipe, den Namen Deutsche Eiche vor. Aber Adolf Hässlers Vater Julius lehnte es ab, sich wegen des schlanken Adolfs umzubenennen. Und als Julius Hässler 1943 an der Rollbahn Richtung Moskau fiel und sein Sohn Adolf die Kneipe übernahm, dachte keiner mehr daran, im Dicken Adolf einen Spottnamen zu sehen.
Wie immer brachte Hässler zuerst einen Doppelkorn und ein Pilsener Bier an den Stammtisch. Er wußte, was der General liebte. Nur Major Waldhaas bekam einen Schoppen Rotwein. Bier machte ihm Sodbrennen – sehr ungewöhnlich, zugegeben.
»Nun sitzen wir also in der Scheiße!« sagte General Petschin volkstümlich. Er sprach ein gutes Deutsch. Erstens hatte er deutsch in der Schule seiner Heimatstadt Minsk gelernt, und zweitens sind fünf Jahre als Besatzungsoffizier in Karlshorst eine gute Lehrzeit. »Gorbatschow, der Wiedervereiniger Deutschlands! Man soll es nicht für möglich halten. Denn das eine kann ich Ihnen prophezeien, meine Herren: Bei dem Mauerfall bleibt es nicht! Es wird ein neues Gesamtdeutschland entstehen. Und das ist der Beginn einer neuen europäischen Zeit, der wir uns anpassen müssen. Vor allem für Sie, Waldhaas, wird es kritisch. Als Stasi-Offizier …«
»Ich hoffe, ich kann allen Untiefen ausweichen.« Waldhaas, ein mittelgroßer, schmächtiger Mann, der in Uniform wesentlich besser aussah als in Zivil, winkte selbstsicher ab. Er war bei der Stasi Führungsoffizier für vier Agenten in der Bundesrepublik und über viele andere lange vorher informiert gewesen, bevor sie entdeckt wurden. »Ich habe mich durch die Vermittlung unseres Freundes Dr. Sendlinger schon vor einer Woche an einen Oberstaatsanwalt in West-Berlin gewandt, mich als Informant zur Verfügung gestellt und glaube, daß man dies auch honoriert.«
»Sie wollen die Seiten wechseln?« fragte Petschin. Es klang etwas konsterniert.
»Nee!« Adolf Hässler lachte, noch bevor Waldhaas antworten konnte. »Wenn er nicht mehr auf der Liste steht, wird er in den Baustoffhandel meines Schwagers einsteigen. Das ist das Geschäft der Zukunft. Die Wessis werden bauen wie die Irren, aus Ruinen machen die Paläste, da werden Milliarden hierher in den Osten fließen, nicht wahr, Ludwig?«
»Warten wir es ab.« Waldhaas war sehr zurückhaltend. »Es ist zu früh zum Jubeln. Mir geht es zunächst darum, nicht auf einer Anklagebank zu sitzen.«
»Aber wir sollten Vorsorgen«, sagte Dr. Sendlinger, ein etwas dicklicher, rotgesichtiger Mann mit breiten Schultern und einem Schnauzbart, der elegant gestutzt war. »Gorbatschows Weisheit: ›Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‹, sollte man nicht als schönes Zitat ansehen … hinter diesen Worten verbirgt sich Ungeahntes. Neuerungen, die wir nicht erahnen können. Umwälzungen, die das Gesicht Europas verändern. Wir müssen auf vieles gefaßt sein.«
»Das waren auch meine Überlegungen, als ich vorschlug, daß wir uns treffen.« General Petschin schlürfte sein Pilsener Bier. »Ich werde zurückkommandiert nach Moskau.«
»Keine gute Nachricht!« Dr. Sendlinger zündete sich eine Zigarre an und blies den ersten Rauch gegen die Decke.
»Was soll man machen? Ein Offizier gehorcht! Ehrlich, ich weine Berlin schon eine Träne nach … andererseits komme ich in den Generalstab der Westarmee und übernehme dort die zentrale Versorgung.«
»Das wiederum ist gut zu hören.« Waldhaas grinste ungeniert. »Vor allem wird es unsere Beziehungen vertiefen und erweitern.«
»Darüber wollen wir heute abend sprechen.« Petschin schob sein Glas über den Tisch. Hässler sprang auf und holte ein neues Glas. »Ich habe aus Moskau streng vertraulich gehört, daß nach einer Wiedervereinigung beider Deutschlands
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