Tödlicher Staub
bewunderten ihn.
So sehr sich Wladimir Leonidowitsch Anassimow auch bemühte, zurückhaltend, aber höflich zu sein – seine Augen hatten während seiner fünftägigen Fahrt von Istanbul bis kurz vor Haifa, das sie jetzt ansteuerten, ein weibliches Wesen erspäht, das ihn allein durch ihren Anblick daran erinnerte, daß er sich vor genau vier Wochen zum letzten Mal um das biologische Gleichgewicht von Jelena gekümmert hatte. Das war für einen potenten Mann wie Wladimir eine lange Zeit. Dazu kam die aufreizende, jodhaltige Meerluft, die bekanntlich Schuld daran hat, daß auf Kreuzfahrtschiffen ein reges Leben in den Kabinen stattfindet.
Die Dame mochte die jüngste der Witwen sein, Wladimir schätzte sie auf vierzig. Im Bikini, den sie bei ihrer guten Figur ohne Scheu tragen konnte, wirkte sie sogar noch jünger. Sie trug das schwarze Haar offen, ließ es im Fahrtwind wehen wie eine Piratenflagge, und abends, beim Tanz, trug sie enge Cocktailkleider mit einem tiefen Ausschnitt, in dem eine große, mit Brillanten gefaßte Perle baumelte.
Sie schien gern zu tanzen, aber sie tat es nicht oft. Die Herren, die sie zu Walzer, Tango oder Foxtrott aufforderten, kapitulierten schon nach zwei Durchgängen und wankten schwitzend zu ihren Tischen zurück. Mit einem hohen Blutdruck geht das nicht mehr so flott.
Das alles beobachtete Wladimir, ohne hilfreich einzugreifen. Was ihn abhielt, die schöne Witwe mit seiner Gegenwart zu beglücken, war die erstaunliche, ja rätselhafte Haltung der Dame. Während ihn sonst die Blicke aller Frauen verfolgten und an den Sonnentagen an Deck deutlich auf seine Badehose starrten, lag sie gelangweilt auf ihrer Liege und beachtete ihn auch nicht, wenn er ein paarmal an ihr vorbeispazierte oder sich neben ihr an die Reling lehnte, um das Meer zu beobachten.
Das kränkte Wladimir, denn es war bereits der fünfte Tag der Kreuzfahrt; er stellte sich an die Bar am Swimmingpool und soff. Der Barkeeper war daran gewöhnt, aber er staunte doch darüber, daß der Russe heute so rhythmisch trank: ein Wodka, ein Bier, ein Wodka, ein Bier … als würde er nach einer inneren Melodie saufen.
Zum ersten Mal zeigte bei Wladimir diese Wodka-Bier-Oper Wirkung. Er rülpste, was die anderen Herren hämisch grinsend zur Kenntnis nahmen, unterschrieb die Rechnung und schwankte unter Deck in seine Kabine. Tatsächlich – er schwankte.
»Auch eine russische Leber sagt einmal Amen!« fiel einem Herren ein, man lachte zufrieden und vergaß den beneidenswerten Säufer.
In seiner Kabine hatte sich Wladimir in einen Sessel geworfen und trank weiter. Der Kabinensteward hatte immer eine Flasche Wodka in einem Eiskübel bereitgestellt und wechselte sie jeden Morgen aus.
Auf das Abendessen verzichtete Wladimir. Er sah sich im Fernsehen die neuesten Nachrichten an, dann ein Interview mit einem an Bord befindlichen, prominenten Amerikaner, der eine Supermarktkette besaß und über die Japaner schimpfte, obwohl er mit ihnen gar nichts zu tun hatte, und zum Schluß die Wettermeldungen für morgen. Wie immer – schönes Wetter, Sonnenschein, wolkenloser Himmel, Tagestemperaturen: Luft sechsundzwanzig Grad, Wasser dreiundzwanzig Grad, Windstärke zwei, ruhige See. Dann folgte ein amerikanischer Krimi, in dem ein Maskierter zwei Männer und vier Frauen ermordete. Warum, wußte keiner.
Im Ballsall fand heute kein Tanz statt … ein Pianist gab ein Konzert mit Stücken von Beethoven, Chopin, Tschaikowsky und Mussorgski. Ein klassischer Abend, und es war anzunehmen, daß der Saal nur zur Hälfte gefüllt war. Auch die schöne Witwe würde in ihrer Kabine bleiben. Wladimir F. Anassimow hatte unter Opferung von hundert Dollar von seinem Kabinensteward erfahren, daß sie Loretta Dunkun hieß und in Kabine 017 wohnte, auf dem Sonnendeck – nobel, nobel.
Als er glaubte, sie müsse jetzt in 017 auch vor dem Fernseher sitzen, stand Wladimir schwerfällig auf, taumelte mit umnebeltem Gehirn ein paarmal hin und her und verließ dann seine Kabine. Im Lift, auf dem Weg zum Sonnendeck, rülpste er noch einmal kräftig, stieg dann aus und suchte die Kabine 017.
Vor der Tür blieb er stehen, hob die Hand und klopfte mit dem Knöchel des rechten Mittelfingers schicklich an.
Loretta, im Glauben, es sei ein Steward, öffnete. Mit großen Augen voller ungläubigen Staunens, starrte sie ihn an. Er lächelte breit und schob sein markantes Kinn vor.
»Ich bin Wladimir!« sagte er mit schwerer Zunge.
»Sie sind ja betrunken!«
»Ich habe
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