Tödlicher Staub
Unbequemen in den Hintern treten und dem Staat ans Bein pinkeln, alle Welt regt sich auf … und was war wirklich los? Ein Windei ist geplatzt! Was hat man an neuen Erkenntnissen gewonnen? Nichts! Alles war schon vorher bekannt. Und die Atomverkäufe laufen weiter. Monsieur Fulton, da glaube ich schon eher an einen Erfolg, wenn wir uns an den Mann mit den neun Fingern halten, an diesen geheimnisvollen Igor Germanowitsch … das allein scheint eine heiße Spur zu sein! Was uns fehlt, ist schlicht der Nachname. Haben wir den, kann Rußland den Atomschmuggel beobachten. Irgendwann einmal wird einer der Boten seinen Namen nennen, um sich von einer Bestrafung freizukaufen. Bis dahin können wir nur auf den ›Kommissar Zufall‹ hoffen.«
Dieses Gespräch hatte am Vortag stattgefunden. Jetzt stand Sybin vor dem Hotel Monique und hatte sich vorgenommen, das zu tun, wozu er sonst seine Spezialisten einsetzte: töten!
Nur: wie tötete man einen Menschen, ohne eine Waffe zu haben? Mit den bloßen Händen? Mit einem Strick? Woher jetzt einen Strick nehmen? In Filmen ist das einfach: Man reißt das Telefonkabel aus der Wand oder eine Gardinenschnur vom Vorhang, auch die eigene Krawatte kann in solcher Situation nützlich sein, aber gab es in dem schäbigen Zimmer, in dem Nataljas Geliebter hauste, überhaupt ein Telefon und eine Gardine? Und immer wieder die gleiche Überlegung: Wenn er stärker ist als ich? Er sah, soweit es Sybin beurteilen konnte, sehr sportlich aus, nicht wie einer, der nach einem Fausthieb wehrlos wird.
Sybin erwog das alles, bevor er die Tür des Hotels öffnete. Er zog die Hand, die schon auf der Klinke lag, zurück und ging an der schmutziggrauen Fassade entlang bis zur nächsten Straßenecke.
Es war lange her, seit er mit eigener Hand einen Menschen getötet hatte. Damals war er noch jung gewesen, ganze siebzehn Jahre alt. Breschnew regierte, obwohl schon sehr krank, das Sowjetreich im Sinne von Lenin und Stalin, der ›kalte Krieg‹ mit den USA lähmte die Wirtschaft, und der KGB hatte alle Hände voll zu tun, die Unzufriedenheit im Lande zu unterdrücken und unbequeme Kritiker in sibirische Lager zu verbannen oder in Irrenhäusern verkommen zu lassen. Das war die Zeit, in der Sybin mit drei anderen Freunden nach dem Muster der amerikanischen Mafia eine ›Gesellschaft‹ gründete, deren Geschäftsbereich sich vor allem auf das Land konzentrierte: Auf den Sowchosen und landwirtschaftlichen Genossenschaften verschwanden Getreide, Gemüse, Fleisch, Käse, Butter, Sonnenblumenöl, überhaupt alles, was eßbar war; aus Schuhfabriken verließen Lastwagen voller Schuhkartons die Laderampen und kamen nie in den Zielorten an; die Großschneidereien verbuchten plötzlich unerklärliche Stoffengpässe und rätselhaft war auch, daß pharmazeutische Werke einen Schwund meldeten, den man mit den veralteten Maschinen begründete: Es würde zuviel Ausschuß fabriziert.
Alle diese Gegenstände tauchten später auf den schwarzen Märkten in den russischen Großstädten auf, in Minsk und Smolensk, in Irkutsk und Jakutsk, in Leningrad und Odessa, überall dort, wo die Menschen in langen Schlangen anstanden, um ein ›Sonderangebot‹ zu ergattern. Die Logistik der ›Gesellschaft‹ war straff durchorganisiert, aus den drei Gründern waren in kürzester Zeit viertausend ›stille Mitarbeiter‹ geworden, und da mußte auch Sybin, allein zur Aufrechterhaltung der Disziplin bei den Fabrikdirektoren und den Verteilern, eigenhändig tätig werden. Er hatte ständig eine geladene Makarovpistole im Hosenbund stecken, und wenn er eine größere ›Inspektionsreise‹ antrat, fuhr in einem Geigenkasten – wie in den dreißiger Jahren bei Al Capone in Chicago – eine Kalaschnikowmaschinenpistole mit. Es gab dann einige unerklärliche Todesfälle, die in Moskau in der Zentrale des KGB archiviert wurden. In Moskau selbst war es ruhig … auf dem dortigen Schwarzmarkt tauchte keine heiße Ware auf, und es gab keine Erschossenen: Sybin hatte sich vorgenommen, seine Heimatstadt sauberzuhalten.
So hatte alles angefangen. Heute kontrollierte der ›Konzern‹ alles, was produziert und verkauft werden konnte, kassierte Schutzgelder, hatte das Bordellwesen fest in der Hand, überwachte den Drogenmarkt und war nun, nach den Abrüstungsverträgen, in das Nukleargeschäft eingestiegen. Rußland war in Sybins Hand … und ausgerechnet er stand jetzt an einer Straßenecke auf dem Montmartre, starrte vor sich hin und wußte nicht,
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