Tödlicher Staub
gab dem Pagen ein Trinkgeld. Einen amerikanischen Dollar, der den Jungen so verwirrte, daß er einen roten Kopf bekam und schnell aus dem Zimmer lief. Ein ganzer Dollar … und außerdem war Natalja nur leicht bekleidet gewesen, was einen sechzehnjährigen Pagen auch nicht kaltläßt.
Es war vorauszusehen, daß das Gespräch zwischen Natalja und dem Portier Stephan wenig Erfolg zeigte. Stephan blieb eisern, trotz der fünf Dollar, die Natalja über die Rezeptionstheke schob.
»Ich weiß es nicht«, beharrte er. »Es war ein Herr.«
»Natürlich war es ein Herr! Sie kennen ihn?«
»Wie soll ich jeden Herrn kennen?«
»Wie sah er aus? Hatte er weiße Haare?«
»Er trug eine braune Kappe.«
»Ging er etwas nach vorn gebeugt?« Natürlich dachte Natalja zuerst an Professor Kunzew.
»Das habe ich nicht beobachtet. Es standen noch drei andere Gäste vor der Rezeption. Ich hatte viel zu tun.«
Natalja sah ein, daß weiteres Ausfragen sinnlos war. Wenn Kunzew ihr einen Riesenstrauß gelber Rosen schickte, so hatte er unbewußt ihre Lieblingsfarbe getroffen.
»Wenn noch einmal ein Blumenstrauß abgegeben werden sollte«, sagte sie, »dann nehmen Sie ihn nicht an.«
»Das kann ich nicht.« Stephan Wladissiwitsch dachte an Oberst Micharin. Obwohl sich die Zeiten grundlegend geändert hatten, wäre Micharin in seinem Zorn fähig, ihn zu ohrfeigen. Und ihn dann verklagen? Verklage einer mal den KGB! Früher wäre es fast das eigene Todesurteil gewesen, heute war es immerhin noch mit großen Schwierigkeiten verbunden.
»Sagen Sie dem Herrn: Natalja Petrowna verzichtet auf die Blumen.«
»Eine solche Rede steht mir nicht zu!« rief Stephan verzweifelt. »Das können nur Sie selbst ihm sagen. Und das wird schwierig, denn der Herr möchte ja anonym bleiben.«
Natalja brach das Gespräch ab. Sie verließ das Hotel, winkte ein Taxi herbei und setzte sich neben den Fahrer. Der schnupperte in ihre Parfümwolke, warf einen Blick auf ihre langen Beine und seufzte leise.
»Wohin?« fragte er.
»Durch die Stadt, kreuz und quer. Ich will sie kennenlernen.«
»Hier gibt es keine großartigen Sehenswürdigkeiten. Die Universität, den Flugplatz, der Hafen am Irtysch, die Lederfabriken, die großen Fleischkombinate … das ist schon alles. Ja, und das kasachische Volksmuseum.«
»Fahren Sie los. Mich interessiert alles.«
Der Taxifahrer tat sein Bestes. Er kutschierte Natalja durch die Altstadt, die auf sie einen Eindruck machte, als sei sie in den Orient oder gar nach Asien verschlagen worden. Es gab hier noch die alten Volkstrachten, die vor allem von älteren Frauen getragen wurden, die Märkte boten Gemüse und Früchte aller Art an, jetzt, im Januar, in großen Treibhäusern gezogen, und viel Fleisch hing an den Haken – Semipalatinsk wurde das östlichste Fleischparadies genannt. Hunger schien man in dieser Stadt nicht zu kennen, so sah es jedenfalls auf den ersten Blick aus.
»Ihr habt hier genug Fleisch«, sagte sie. Der Fahrer stieß eine Art Pfiff aus.
»Es liegt da, ja … aber keiner kann es kaufen. Zu teuer! Viele kaufen das Abfallfleisch und kochen daraus eine Suppe oder braten es als Goulasch.«
»Die Stadt sieht aus, als sei sie reich.«
»Das war sie … bis die sogenannte Demokratie kam. Glasnost, was haben wir davon? Perestroika … das geht an uns vorbei. Die Armen werden ärmer, und die Reichen werden reicher. Es gibt keine starke Hand mehr, keine Faust, die auf den Tisch schlägt. Aber ein Russe braucht sie. Er muß wissen, was getan werden muß! Wer weiß das heute noch? Alles geht durcheinander. Dort die alten Kommunisten, die sabotieren, wo es was zu sabotieren gibt, und hier die Jelzin-Jünger, die nach der Hilfe aus Amerika, Deutschland und anderen Staaten schreien. Ist das noch unser Rußland? Und dann die Banden, die Verbrecher, die überall sitzen, auch in den höchsten Stellen. Das Volk ist unzufrieden … und Unzufriedenheit ist in Rußland gefährlich. Denken Sie an das Zarenreich.«
Sie waren am Hafen angekommen, dem wichtigsten Umschlagplatz von Kasachstan. Von hier aus schwammen die schweren Lastkähne den Irtysch hinauf in das riesige Sibirien, nach Omsk und Tobolsk und weiter bis an die Mündung in den Ob. Natalja betrachtete lustlos das vielfältige Treiben im Hafen.
»Fahren wir jetzt zu der Atomstadt«, sagte sie.
Der Mann überhörte es. »Es gibt hier in der Nähe einen verfallenen Kreml. Die Festung der ersten russischen Siedler. Es waren Kosaken …«
Natalja stieg wieder
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