Tödlicher Staub
Töchterchen?«
»Was geht mich Irena an! Ich meine diese Frau …«
»Natalja Petrowna?«
»Heißt sie so? Noch mal … ich mag sie nicht. Sie ist an mir vorbeigegangen. Diese Kleidung, dieses geschminkte Gesicht, dieser Gang … sie kommt mir ordinär vor.«
»Moskau! Das ist Moskau, meine Liebe. In der Großstadt sind sie eben so. Was wissen wir davon? Wir leben hier wie in einem Schweigelager, wie Ausgestoßene in einer Leprakolonie. Die Auserwählten der Wissenschaft!«
»Papa, überwinde doch deine Enttäuschung. Das Leben geht weiter. Verhungern werden wir nicht. Millionen geht es schlechter als uns.«
»Welch ein Trost!« Kunzew schob den Kuchenteller von sich und trank sein Glas Wein leer. »Wie war's im Krankenhaus?«
»Wie immer.« Nina ging ins Bad, wusch sich die Hände und kämmte ihr braunes, kurzes Haar. Wenig war an ihr, was auf einen Mann hätte wirken können. Als sie sich in einem der alten Sessel ihrem Vater gegenüber niederließ, wirkte sie müde und älter, als sie war. »Konstantin Petrowitsch ist in der Stadt.«
»Was?! Er ist da? Nichts hat er mir mitgeteilt.«
»Der Herr Oberst war natürlich bei mir.« Ninas Stimme klang noch härter, fast männlich. »Er ist wie eine Raupe! Man kann ihn wegfegen, und er kriecht wieder hoch. Micharin begreift einfach nicht, daß er für mich ein Schleimfleck ist.«
»Nina! Redet so eine gebildete Person? Eine Ärztin?«
»Ich bin wütend, Papa!«
»Du wirst gleich noch wütender werden, Töchterchen. Wir haben morgen abend einen Gast.«
»Wen?«
»Natalja Petrowna.«
»Und ich soll für sie kochen?« rief Nina empört. Sie war aufgesprungen und schlug mit der Faust auf die Sessellehne. »Nein!«
»Du sollst kochen für mich, dich und Natalja … bitte.«
»Ich werde Ratten braten und sie mit Rattengift würzen!«
»Dann bist du auch mich los. Willst du das?«
»Ich verfeinere nur ihre Portion!«
»Nina, du kennst sie doch gar nicht. Sie kann so schön erzählen. Und stell dir vor – ein Onkel von ihr ist von der Moskauer Mafia ermordet worden.« Kunzew räusperte sich. »Nina, sei nicht so böse und hartherzig. Koch morgen etwas ganz Schönes.«
Es war der Ton in seiner Stimme und der Ausdruck in seinen Augen, die Nina ans Herz gingen, und sie gab nach. Ihre innere Bindung zu ihrem Vater war so stark, daß sie ihm alles verziehen hätte. Und daß sie Oberst Micharin in seinem Leben duldete, war ein Beweis dafür. Nun auch diese Natalja … Das geht vorüber, dachte sie. Ein Besuch, sie fährt bald zurück nach Moskau. Verbittern wir Väterchen nicht mehr, als er es schon ist. »Gut, ich brate drei Täubchen.«
»Mir kommt da eine gute Idee«, sagte Kunzew in Ninas Gedanken hinein. »Micharin ist hier. Laden wir ihn auch ein. Ob einer mehr am Tisch ist oder nicht …«
»Das nennst du eine gute Idee, Vater?!« Nina brauste wieder auf. »Eine ganz miserable Idee ist es! Gleich zwei Ekel, für die ich kochen soll!«
»Es wird ein sehr interessanter und lustiger Abend werden, Nina. Haben wir sonst viel Abwechslung? Wir versauern doch wie eingelegte Gurken.«
Wieder diese Stimme, diese traurigen Augen. Nina wandte sich ab und nickte.
»Gut«, sagte sie. »Schlucken wir auch das. Ruf Micharin an … er kann kommen.«
Natalja Petrowna hatte unverschämtes Glück.
Nachdem Oberst Micharin enttäuscht über die Ablehnung Ninas das Krankenhaus verlassen hatte, fuhr er in seinem erdfarbenen Dienstwagen kreuz und quer durch Semipalatinsk. Er mochte diese Stadt am äußersten Ende Rußlands, auch wenn es um sie herum nur Steppe und Einöde gab, unterbrochen von kleinen Dörfern, deren Bauern zwar ihr Schicksal beklagten, sich aber an die Erde krallten. Ausnahmen waren nur die Dörfer der Deutschstämmigen – schmucke Häuser mit schönen Schnitzereien, gepflegte Felder, der widerspenstigen Natur abgerungen, Farbtupfer in der unendlichen Weite des Landes und unter einem grenzenlosen Himmel. Vor allem aber die Frauen gefielen ihm. Die Kasachinnen besaßen den Zauber asiatischer Erotik, ihre schwarzen, schrägstehenden Augen empfand er wie eine ständige Verlockung, und wenn sie tanzten, war es, als seien ihre schlanken Körper leicht wie Federn.
Hier war Moskau weit, weit entfernt. Hier lebte man sein eigenes Leben, zusammen mit der Natur, die den Zeitenlauf bestimmte. Deshalb auch war Micharin eine Respektsperson für jedermann, denn er verkörperte die kommunistische Macht, die sich die Mutter des sowjetischen Volkes nannte. Das war nun
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