Tödlicher Steilhang
wir nicht einmal irgendetwas so lassen, wie es ist? Und wir sollen jetzt unser Weingut verkaufen. Vielleicht sogar an Chinesen? Die will ich an der Mosel nicht haben! Die sollen ihre Pekingenten braten und verdammt noch mal zu Hause bleiben. Sie können uns gern den Wein abkaufen, wir kaufen dann ihren Reis oder billige Flachbildschirme, die sie bei uns kopiert haben.«
Der alte Winzer sprang übergangslos zum nächsten Gedanken. »Wissen Sie, zuerst habe ich Helmut ermutigt, ich war selbst von Anfang an gegen die Brücke, aber wenn man den Gegner nicht besiegen kann, muss man sich mit ihm verbünden. Hermann der Cherusker hat bei den Römern gedient, bevor er sie geschlagen hat. Ich habe Helmut geraten, ein Förderkomitee für die Brücke zu gründen und dann die Gegner mit den Insider-Informationen zu füttern. Wollte er nicht, war ihm zu … unehrlich.«
Bevor Georg ihn darauf ansprechen konnte, kam der Alte selbst auf die Mordtheorie zu sprechen.
»Viele hier im Ort glauben, dass die Weinstöcke angesägtwurden, um Helmut an den Abgrund zu locken und ihn dann runterzustoßen. Der Mörder hat ihn hinbestellt. Nur sagt das keiner offen, sie wollen es sich nicht mit den Mächtigen verscherzen, dabei sind sie gar nicht mächtig – mächtig ist nur die Angst. Der Graben ist doch längst da, auch wenn so getan wird, als gäbe es ihn nicht. Nachbarn sagen es mir hinter vorgehaltener Hand: Du, ich glaube, da hat jemand nachgeholfen. Das aber laut sagen? Niemals. Dann gibt es die, die einen Anschlag rundweg ausschließen, weil ihr Weltbild durcheinanderkäme. Sie wissen zwar um den Wolf im Schafspelz, aber der jagt ihrer Meinung nach anderswo, nur nicht auf ihrer Wiese. Dann haben wir jene, die von einem bedauernswerten Unfall ausgehen. Und ich habe wirklich jemanden sagen hören, dass Leute von der Bürgerinitiative selbst die Weinstöcke abgesägt hätten. Weil sie mit ihrem Protest nicht weiterkommen, sind sie auf einen Skandal aus, um dem Staat oder den Baufirmen was in die Schuhe zu schieben.«
»Und was glauben Sie?« Der letzte Gedanke war zu absurd, das würde er auch einem wie Manfred nicht zutrauen.
»Wissen Sie, was ich glaube? Es ist nur gut, dass meine Frau nicht mehr lebt, sie hätte den Verlust nicht verschmerzt. Es ist grauenvoll, wenn ein Kind vor einem stirbt, das ist, als würde einem was abgehackt, als würde die Welt sich falsch herum drehen, so darf der Lauf der Welt nicht sein. Ich habe zwar noch zwei Kinder, aber eines fehlt, und das ist unersetzlich.« Sein Blick eilte wieder ruhelos übers Tischtuch, unter dem Tisch knetete er die Hände.
»Jetzt müssen alle helfen. Wir haben kommendes Wochenende Familienrat, da werden die Aufgaben neu verteilt. Ich werde die Führung übernehmen, kurzzeitig zwar, aber es geht nicht anders. Niemand ist hier so zu Hause wie ich. Das Weingut hat uns allen das Leben und Überleben ermöglicht.«
»Wer wird weitermachen?«, fragte Georg, obwohl ihn anderes viel mehr interessierte.
»Meine Kinder sind in ihren Berufen sehr etabliert, deshalb halte ich zwei meiner Enkel für geeignet. Sie brauchen jedoch meine Hilfe, meine Begleitung. Im Wein steckt nicht nur Technologie, wie die Jungen uns das weismachen, die aus einem Riesling einen Muskateller keltern – mit Enzymen, Hefen und Maschinen kriegt man alles hin. Schnelle Zeiten, schnelle DSL-Verbindungen, schnelle Weine, das ist das Motto. Sie staunen, ja, ich kenne mich aus, ich war der Erste, der hier schon vor fünfundzwanzig Jahren mit einem alten Atari-Rechner gearbeitet hat.«
Wieder irrte sein Blick unstet über das Tischtuch, als suche er dort einen Krümel zum Wegpusten oder als lägen dort die Gedanken, die er aufgriff und die er zu seinem Monolog verband.
»Sie müssen nicht glauben, weil ich achtzig Jahre alt bin, bin ich ein Schwachkopf oder weitab von allem. Ich habe achtzig Jahre lang gelernt, Wissen und Erfahrungen gesammelt und sie aufgearbeitet. Ich habe ein Weingut geerbt und ausgebaut, alle Kinder bis auf Helmut haben studiert, was sie wollten, nur er wollte nicht, dafür hat er seinen Winzermeister gemacht. Er wollte den Riesling wieder dahin führen, wo er vor Jahrzehnten einst gewesen ist, als man 1905 im Kaiser-Keller in Berlin für einen 1897er Piesporter Goldtröpfchen fünfzehn Mark zahlte, das war ein Drittel mehr als für den Château Margaux aus Bordeaux für zehn Mark. Den Chambertin aus dem Burgund bekam man schon für vier Mark und fünfzig Pfennige.«
Dann schwieg
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