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Tödlicher Steilhang

Tödlicher Steilhang

Titel: Tödlicher Steilhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grote
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standen nur noch wenige Rebzeilen, bevor der Wald begann. Hier oben war die Luft klar, der Abend lau, über ihnen strahlte ein wolkenlos blassblauer Himmel, doch das tief stehende Wolkenband im Westen ließ auf Regen schließen, wie Klaus befürchtete. Schlechtes Wetter kam meistens aus Westen.
    Es war wieder einer jener Momente, der Georg staunend seine neue Umgebung bewundern ließ. Etwas länger als eine Woche war er hier, und er merkte, wie der Wein ihn in seinen Bann zog, dass er ihn als etwas Lebendiges sah, die Weinstöcke als Lebewesen, von denen die Menschen etwas erhielten, wenn man sie verstand, akzeptierte, sie mit Respekt und vor allem ihren Bedürfnissen nach behandelte. Sie standen zwar in Reihen, zu Tausenden, aber jeder Stock war anders, war ein Individuum. Klaus war in dieser Sichtweise radikaler als Bischof, weshalb er ihn abfällig als »Romantiker« aufzog.
    Das Wetter spielte eine bedeutende Rolle, Georgs erster Blick am Morgen galt jetzt dem Himmel, der erste Wetterbericht wurde daraufhin abgehört, wie groß die Regenwahrscheinlichkeitwar, ob die Temperatur den Reben nutzte und mit wie vielen Sonnenstunden zu rechnen war.
    Bisher war das Wetter lediglich bei Open-Air-Konzerten ein Thema gewesen, wenn ihre Sicherheitsmannschaft mit blauen Regenponchos ausgerüstet werden musste. Das Blau war auf seinen Vorschlag hin eingeführt worden, um die Aggressivität von Schwarz zu vermeiden, einem Feindbild entgegenzuwirken und sich von den schwarz gekleideten Rockern zu unterscheiden. Baxter hatte das Schwarz sofort wieder eingeführt. Mit den Worten »Sicherheit entsteht aus Angst« hatte er diese Maßnahme begründet und gegen alle Widerstände durchgesetzt. Den Gedanken, dass Sicherheit aus Vertrauen erwuchs, hatte er belächelt. Georg hatte sich gefragt, wie er seine Kinder erzog, bis er erfahren hatte, dass Baxter Kinder lediglich als Karrierehindernis betrachtete.
    Es gab einen amerikanischen Song mit dem Titel ›Sixteen Tons‹ von Tennessee Ernie Ford – mit dem Refrain: I owe my soul to the company store . Das war auf die Arbeiter der US-Bergwerke der Vierzigerjahre gemünzt gewesen, aber so lautete auch die Devise des neuen »Präsidenten« von COS. Der Beginn der zweiten Strophe sagte alles über ihn: I was born one morning, when the sun didn’t shine .
    Diese Gedanken gingen Georg durch den Kopf, während er langsam die Straße am Hang hinauffuhr, flankiert von Reben, unter deren Blattwerk die Trauben hingen, wobei Klaus über die Farbe der Beeren sprach, den allmählichen Wechsel vom stumpfen Grün des Rieslings bis zu seinem prallen Grüngelb mit winzigen schwarzen Punkten.
    Je näher sie dem Tatort kamen, wie Klaus ihn nannte, desto stärker wurde Georgs Anspannung. Er hielt nach wie vor einen Unfall für wahrscheinlicher als Mord. Es gab Winzer, die von einem Komplott der Brückenbauer sprachen, weil die Stimmung umschlug, neue Einwände gegen die Brücke wurden laut. Hinzu kamen der Vertrauensverlust durch dieNürburgringpleite und die Verärgerung über die Grünen, von denen sich viele getäuscht fühlten.
    Georg aber hielt die Bauherren nicht für so dumm, eine derartige Tat in Auftrag zu geben. So weit waren die Sitten in Deutschland nicht verroht. In einigen Jahren, wenn politische Auseinandersetzungen rauer geworden wären, das politische und wirtschaftliche Klima härter, die Armut größer, dann ja. Denkbar war allerdings, dass jemand die Forderung der Brückenbauer nach einem Ende der Debatte auf seine Weise interpretiert hatte. Die Polizei würde alles tun, einen derartigen Sachverhalt zu vertuschen und möglicherweise involvierte Politiker rauszuhalten. Dafür fand sich entsprechend »verantwortungsbewusstes« Personal, COS war ständig auf der Suche danach.
    Sie kamen mit dem Auto nur bis auf hundert Meter an die Stelle heran. Das letzte Stück gingen sie zu Fuß. Die Lebendigkeit der Umgebung und die Grenzenlosigkeit des Blicks standen in krassem Gegensatz zu dem Anlass, der sie hergeführt hatte. Sogar in der schönsten Umgebung und bei strahlendem Wetter nahm der Tod die Sense in die Hand. Ein eigenartiges Gefühl von Weltschmerz erfasste Georg, er blieb stehen, er sah den Winzer vor sich, er sah ihn gestikulieren, er war ihm nah, meinte, seine Stimme zu hören, nahm sie als ein unbekanntes, eigenartiges Gefühl von Trauer wahr. Die Trauer war anders als die um sein verkorkstes Selbst, das gerade zusammenbrach, denn darin deutete sich auch die Möglichkeit des

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