Tödlicher Steilhang
Jasmin, er hasste sich selbst, weil er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, und schämte sich seiner Hilflosigkeit. Und in solchen Momenten hatte er das Gefühl, dass Miriam und Jasmin ihn verachteten.Deshalb legte er auf, atmete eine Weile tief durch und rief fünf Minuten später wieder an.
Als er die letzte Zahl eintippte, wurde er gewahr, wie hart er die Zähne zusammenbiss, wohl auch im Schlaf. Deshalb tat ihm morgens der Kiefer weh. Er musste sich entspannen und atmete tief durch, er durfte nicht mit dieser Wut im Bauch mit Rose sprechen. Er lauschte auf das Rufzeichen, ein flaues Gefühl im Magen und gleichzeitig hilflos dem Abheben des Hörers entgegenfiebernd. Das Rufzeichen verhallte, er lenkte sich ab und blätterte in einer Fachzeitschrift.
An einem Artikel darüber, was auf Etiketten geschrieben werden durfte, blieb er hängen. Auf alkoholischen Getränken, auch auf Wein mit wenig Säure, war der Hinweis »bekömmlich« verboten. Hingegen durften bei Weinen, die »BIO« als Bezeichnung trugen, Eichenchips zur Geschmacksveränderung eingesetzt werden, ebenso Tannine zum Haltbarmachen. Wie der Prozess funktionierte, musste Bischof ihm erklären, ebenso die Maischeerhitzung, obwohl er sich darunter schon etwas vorstellen konnte. Die Konzentration des Mostes durch Umkehrosmose hingegen war ihm gänzlich unverständlich.
Dazu fand sich eine Erklärung im Internet. Es bedeutete, dass Wassermoleküle eine Membran durchdringen konnten, Säuren und Zucker hingegen nicht, wodurch sie im Wein konzentriert wurden, Wasser aber abgeschieden wurde.
Nach einer halben Stunde rief er erneut zu Hause an und hörte Roses zaghaftes »Hallo?«.
»Ich bin’s«, sagte er, wissend, dass sie ihn sogar am Atmen erkennen würde.
Sie sprachen eine Stunde lang. Als er bemerkte, wie schwer es ihr fiel, über sich und die momentane Situation zu sprechen, erzählte er ausführlich, wo er war und was um ihn herum geschah. (Von einem neuen Leben wollte er nicht sprechen, obwohl es ihm in den Sinn kam.) Er berichtete über die Arbeit im Weinberg, schwärmte von der Landschaft, beschriebseine winzige Wohnung, erzählte von Bischof und Klaus, von »dem Jungen von gegenüber« und von Kilians Zeichnung.
Alles gehörte zu dem Versuch, ihr so ehrlich wie möglich und so schonend wie nötig beizubringen, dass er nicht zurückkommen würde, keinesfalls in ihr Haus, eventuell nach Hannover, obwohl er das längst für ausgeschlossen hielt, wie ihm in diesem Moment bewusst wurde. Er gab ihr die neuen Telefonnummern und versprach, alles hier zu fotografieren und ihr die Fotos zu schicken, bis er ihr Schluchzen hörte.
In diesem grauenvollen Moment kamen ihm selbst die Tränen. Hätte er das alles nicht sagen dürfen? Hatte er wie ein Elefant auf den Gefühlen seiner Tochter herumgetrampelt, wieder alles versaut? Wie lange hatte er nicht geweint? Wie lange war das her?
Hier an dem zweiten Schreibtisch in Frau Wackernagels Büro fragte er sich, wie es war, wenn einem das Herz brach, wenn man glaubte, an Schuldgefühlen zu ersticken, wenn die kleinste Ritze im Dielenboden groß genug war, um sich darin zu verkriechen?
Aber in Selbstmitleid zu ertrinken war für ihn keine Option, Krisen kannte er nicht. Wenn er nicht weitergewusst hatte, war immer jemand erschienen, der gewusst hatte, was gut für ihn war, ohne gefragt zu sein. Hier und heute bot sich niemand an, ihm blieb nichts anderes übrig, als selbst zu entscheiden. Er stand auf, trat auf die Straße und schloss das Büro ab. Der Anblick des Wassers und das Spiegelbild der Weinberge darin würden ihn beruhigen.
Heute brauchte er doppelt so lange, bis er sie entdeckt hatte. Es war kein Pärchen mehr, es waren zwei Männer Mitte dreißig in einem weinroten Audi. Jason hatte zumindest das B-Team geschickt. Schön, dass ich ihm das wert bin, dachte Georg sarkastisch und empfand die Farbe des Audi als passend.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass einer der beidenMänner ausstieg und ihm folgte. Georg grinste böse, er ging um die Hausecke auf eine Schaufensterscheibe zu, darin sah er, wie auch der Wächter um die Ecke bog. Gut, sehr gut, bestens geradezu. Georg sah sich um. Er selbst musste in die Offensive gehen, er würde seine Verhandlungsposition verbessern. Es war wie im Krieg: kämpfen und gleichzeitig verhandeln. Er drehte sich abrupt um und ging auf den Verfolger zu. Er kannte den Mann nicht, er musste neu bei COS sein, oder Baxter hatte ihn bei einem anderen Unternehmen
Weitere Kostenlose Bücher