Toedlicher Sumpf
retteten, ließen die Hausbesitzer am Audubon Place bewaffnete Security-Leute einfliegen, die ihre Anwesen vor Plünderern schützen sollten.
Die dornenbewehrten schwarzen Gitterstäbe, so dick wie meine Unterarme, machen unmissverständlich klar, dass die schmiedeeisernen Tore nicht zum Spaß da sind. Das auf dieser Straßenseite hängt zwischen Steinpfeilern, die doppelt so groß sind wie ich. Auf einem dezenten Metallschild steht: BITTE SCHLIESSEN SIE DAS TOR ZU IHREM EIGENEN SCHUTZ – was keinen Sinn ergibt, denn das Schild ist draußen angebracht, deutlich zu lesen vor allem für uns Normalsterbliche hier auf der Straße.
Irgendjemand hat mit neongrünem Marker darunter geschrieben: FICKT EUCH REICHE SÄCKE!, und dazu Comic-Schwänze verschiedenster Größe und Gestalt gezeichnet. Ich wühle in meiner Handtasche – schiebe die weichenBaumwollhandschuhe beiseite, die ich immer bei mir trage für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich einmal das Glück haben sollte, auf irgendwelches Beweismaterial zu stoßen –, ziehe schließlich meinen schwarzen Sharpie-Schreiber hervor, sehe mich einmal kurz um und ergänze den Spruch um ein gekrümmtes Komma: FICKT EUCH, REICHE SÄCKE! So.
Hinter den Gitterstäben stehen große Palmen auf sattgrünen Rasenflächen, ihre Wedel bewegen sich leise im Wind. Ein schwarzer Mercedes biegt in die Zufahrt ein und bleibt wartend dort stehen.
Ich frage mich, welches dieser Schöner-Wohnen-Häuser wohl George Anderson beherbergt, den Hausangestellten-Begrapscher.
Dieser Nachmittag ist allerdings dem Lesen vorbehalten. Zu Fuß überquere ich die Freret Street in Richtung Howard-Tilton Memorial Library. Der großzügige, kiesbestreute Vorplatz liegt im Schatten riesiger Virginia-Eichen, und die leichte Brise ist kühl auf meiner Haut. Vögel hüpfen zwitschernd von Ast zu Ast.
Ich will die einschlägige Literatur sichten – Bücher, Artikel in Fachzeitschriften –, um mir einen Kontext zu schaffen, innerhalb dessen ich dann die Interviews führen kann. Alles findet man noch nicht im Netz. Anschließend werde ich die Täter befragen, außerdem Nachbarn, Psychologen, Gefängnisaufseher und so weiter. Erst alle Perspektiven einfangen, dann zusammenschreiben. Den Aufbau stelle ich mir so vor, dass ich mit einer griffigen Anekdote anfange und dann zu Fakten und Zahlen übergehe, durchgehend wohlwollend nach allen Seiten und dabei absolut neutral – in der Art, wie sie bei der New York Times ihre Titelgeschichten machen.
Ich ziehe die schwere Glastür auf, betrete die Bibliothek, und sofort schlägt mir die vertraute Geruchsmischung entgegen: Klimaanlage und eine Million Bücher. Nachdem ich meinen Alumni-Ausweis gezeigt habe, winkt die studentischeHilfskraft mit dem glänzenden blonden Pferdeschwanz und dem kleinen Stern-Tattoo auf dem Wangenknochen mich durch. Ich fühle mich sofort zu Hause, so als wäre es gestern gewesen, dass ich mich das letzte Mal mit Rucksack und einer Batterie Diet Cokes in einer der Lesekabinen niedergelassen habe, um einen Seminararbeiten-Schreibmarathon anzutreten – etwas, das ich tatsächlich mochte. In der Hinsicht war ich immer ein bisschen seltsam.
Vielleicht galt für mich, was oft behauptet wird: dass Schule und Universität mit ihren geordneten Verhältnissen für jene, die dem Chaos der Armut entkommen wollen, eine willkommene Zuflucht darstellen. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass meine Mutter die einzige Gabe, die sie aus Castros Kuba mitgebracht hatte, an mich weitergereicht hat: die Freude am Lesen und Schreiben. Seit ich denken kann, hat sie auf Spanisch gesungen und Gedichte aufgesagt, und Spanisch lesen hat sie mir sehr früh beigebracht. Englisch lesen haben wir dann zusammen gelernt – indem wir uns die Sesamstraße angeschaut, einander Dr. Seuss vorgelesen und die Lehrbücher durchgearbeitet haben, die sie anschleppte.
Es heißt, wem schon früh vorgelesen wird, dem sind akademische Erfolge so gut wie sicher. Es heißt, wer zweisprachig aufwächst, bei dem erhöht sich die Anzahl der neuronalen Verknüpfungen im Gehirn. Welche Faktoren auch immer dazu beigetragen haben, dass ich meinem Alter voraus war – als der freundliche weiße Mann mit den Locken und der Brille mir Fragen stellte und mich beobachtete, während ich ein komisches Würfelpuzzle zusammensetzte, kam jedenfalls heraus, dass ich nicht in meinen alten Kindergarten zurück musste. Es kam heraus, dass mein IQ trotz der Armut, trotz der Tatsache, dass meine
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