Toedlicher Sumpf
Mutter alleinerziehend war und ich Spanisch als erste Sprache gelernt hatte, bei 156 lag.
Als der Dolmetscher ihr erklärte, dass ich allein zu einer Schule am anderen Ende der Stadt würde fahren müssen, kannte meine Mutter die Statistiken nicht. Sie wusste nicht, dassdie Tatsache, dass ich in einem Sozialwohnungskomplex aufwuchs, meine Chancen auf einen Schulabschluss erheblich senkte, ebenso wie der Umstand, dass wir von Sozialhilfe lebten. Sie wusste nur, dass sich das Ganze so anhörte, als könnte es für ihre Kleine eine Möglichkeit sein weiterzukommen. Also unterschrieb sie die Papiere.
Die Busfahrt mit Umsteigen zur Public School McDonogh 15, dem hübschen, rot verputzten Gebäude im French Quarter, wo die Kinder Schuluniformen trugen, war mein täglicher Übergang in eine andere Welt; eine Welt, in der sich gegenüber der Schule ein Coffeeshop befand (kein Entwässerungsgraben, keine Pfandleihe und keine Müllcontainer), wo der Rasen, auf dem wir spielten, von großen Magnolien mit glänzendem dunkelgrünen Laub und cremeweißen Blüten beschattet wurde und wo es im Hof anstelle von löchrigem Zement und einem Maschendrahtzaun rote Dreiräder und eine Sandkiste gab. Jeden Morgen begegneten mir auf meinem kurzen Weg von der Bushaltestelle zur Schule Wohlstand, angenehmes Leben, Spuren überschwänglichen Feierns und gelegentlich eine Pfütze Erbrochenes.
Obwohl ich noch ein Kind war, spürte ich, dass diese Schule mir den Weg raus aus den Desire Projects ebnete. Aber vorerst war dieses Anderssein nicht immer von Vorteil. Wenn ich in den Neunten Bezirk zurückkehrte, trugen der blaue Faltenrock, die Bubikragen-Bluse und die ungewohnten Wörter, die ich von der Schule mitbrachte, mir immer wieder Prügel ein, egal wie derb ich zu reden versuchte. Damals wurden Bibliotheken zu einem Zufluchtsort für mich, und genauso war es an der Tulane, wo ich weder die richtige Garderobe noch die richtigen Ansichten hatte, um dazuzugehören. Die Howard-Tilton Library finde ich fast so anheimelnd wie die Küche meiner Mutter.
Den größten Teil des Nachmittags verbringe ich im Magazin, wo ich zu den Themen Vergewaltigung, Pädophilie, Rehabilitierung, Haft und Rückfälligkeit einiges an aktuellenTiteln finde. Ich erfahre, dass Vergewaltigung wegen des damit verbundenen Stigmas eines der Verbrechen ist, die weltweit am häufigsten gar nicht angezeigt werden, und dass es deshalb schwer ist, die wahre Zahl der Opfer zu beurteilen. In den USA, so die Schätzungen, werden dreizehn bis fünfundzwanzig Prozent aller Frauen irgendwann im Laufe ihres Lebens einmal vergewaltigt. Da die Frauen aber noch mehr davor zurückschrecken, die Tat anzuzeigen, wenn sie den Vergewaltiger kennen, sind diese Zahlen bestenfalls ungenau – was auch für den Befund gilt, dass nur etwa drei Prozent der Männer je vergewaltigt werden. Ungeachtet des Geschlechts der Opfer sind die Täter jedoch nahezu ausnahmslos Männer. Ich überfliege die wichtigsten Texte und schreibe die Notizen gleich in meinen Laptop.
Während der kurzen Pausen, die ich einlege, um mir die Beine zu vertreten, gehe ich raus auf den Vorplatz, rufe mehrere forensische Psychiater an und schaffe es tatsächlich, Dr. med. Omar Letley für ein Interview zu gewinnen; er ist Spezialist auf dem Gebiet der Rehabilitierung nach besonders schweren Sexualstraftaten. Morgen, 14 Uhr, im Central Business District, CBD. Wenn ich Glück habe, liefert Dr. Letley mir ein paar knackige Aussagen, die diese ganzen Forschungsergebnisse präzise und griffig auf den Punkt bringen.
An einem normalen Nachmittag unter der Woche zeigt einem das Café »La Madeleine«, Ecke Carrollton/St. Charles Avenue, dass positive Diskriminierung im Sinne der Affirmative Action durchaus ihre Berechtigung hat. Schwarze stehen in der Küche und hinter dem Tresen und bedienen weiße Mamas, die nach der Schule mit ihren Kindern herkommen, um ihnen etwas Leckeres zu spendieren. Ein lebendiges Beispiel für die faktische Rassentrennung in der Dienstleistungswirtschaft – oder, wie die Leute in den Sozialwohnungsprojekten sagen, »Dienerwirtschaft«.
Ich sitze allein an einem Tisch und warte auf meine FreundinSoline, die möchte, dass ich sie beim Shoppen unterstütze. Um drei hätte sie da sein sollen, jetzt ist es etwa zwanzig nach. New Orleans. Hier lassen sich alle Zeit.
Draußen auf dem Parkplatz sitzt ein Priester in seinem goldenen Toyota Camry; er hat die Augen geschlossen und nippt via Strohhalm an einem
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