Toedliches Geheimnis
immer in Kampfposition hoch über Kimmies Kopf schwebt. »Ist hier alles in Ordnung?«
»Alles bestens«, sagt Kimmie und stellt die Schale zurück auf den Tisch. »Ich meine, abgesehen davon, dass wir dachten, ihr wärt vielleicht ein verrückter Beilmörder, der versucht, hier einzubrechen.«
»Aber jetzt ist ja alles gut«, sage ich und wünschte, ich könnte ihr irgendwie das Maul stopfen.
Mom gibt auch Kimmie einen Schmatz auf die Wange. »Habt ihr Hunger, Mädels? Ich hab noch einen Rest Blattsalat-Törtchen im Kühlschrank.«
»Lauft um euer Leben«, scherzt Dad.
»Ich sollte jetzt eigentlich lieber gehen«, meint Kimmie. »Ich muss noch ein paar Entwürfe fertig machen. Ich versuche, mich für einen Workshop am Fashion Institute zu bewerben. Da muss man eine Mappe einreichen, um überhaupt als Bewerber zugelassen zu werden.«
»Das ist ja toll«, flötet meine Mutter und erhascht einen Blick auf ihr eigenes yogamäßiges Outfit im Garderobenspiegel.
»Warte, aber was ist mit Lernen heute Abend?«, frage ich und schaue Kimmie vielsagend an.
Kimmie verzieht erst für eine halbe Sekunde das Gesicht, bis sie endlich kapiert, was los ist. »Wenn es unbedingt sein muss.«
»Muss sein.«
»Es ist doch schon fast neun Uhr«, meint mein Dad. »Wie spät wollt ihr eigentlich noch lernen?«
»Wie wär’s, wenn ich dich nachher gleich noch mal anrufe?«, schlägt Kimmie vor. »Ich glaube wirklich, dass wir die Liste mit den Regeln noch einmal durchgehen sollten.«
Ich nicke, und mein Dad bringt sie zur Tür. Ein riesiger Abgrund scheint sich in meinem Inneren aufzutun, denn ich weiß, dass ich Kimmie nicht mehr überreden kann - jedenfalls nicht heute Abend. Wenn ich mit Ben sprechen will, dann bin ich ganz auf mich allein gestellt.
33
Ich gehe durch den Flur in mein Zimmer, da fällt mir plötzlich ein, dass Kimmie mir die Ehre überlassen hat, meinen Eltern das zerbrochene Badezimmerfenster zu beichten. Während die beiden es sich also auf dem Wohnzimmersofa gemütlich machen, gehe ich, um den Schaden in Augenschein zu nehmen.
Es ist noch schlimmer, als ich dachte. Nicht nur ein kleiner Riss oder ein Löchlein; das Fenster ist komplett eingeschlagen.
Ich schnappe mir Besen und Schaufel und fange an, alles aufzukehren, aber dann bemerke ich eine Dreckspur auf dem Fußboden, die sich quer über die Badezimmerfliesen durch den Flur bis zu meinem Zimmer zieht.
Meine Gedanken rasen. Ich schaue zurück zum Fenster. Sowohl das Fenster als auch das Fliegengitter sind hochgeschoben. So als wäre jemand hindurchgeklettert.
Ich schaue zur Dusche hinüber, ob sich vielleicht dort jemand versteckt. Langsam nähere ich mich, mein Puls beschleunigt. Ich schnappe einen Rasierer aus dem Badezimmerschränkchen
und mache mich bereit zum Krampf Mit einem Keuchen reiße ich den Vorhang zurück.
Aber glücklicherweise ist die Dusche leer.
Schwer atmend versuche ich, mich zu beruhigen und mir klarzumachen, dass meine Eltern nur vier Räume entfernt sind.
Vorsichtig schleiche ich durch den Flur in mein Zimmer. Die Tür ist geschlossen, obwohl ich genau weiß, dass ich sie zuvor offen gelassen hatte. Den Rasierer fest umklammert drehe ich den Türknauf, trete hinein und sehe es: Das Wort SCHLAMPE ist mit dunkelrotem Lippenstift quer über meinen Frisierspiegel geschmiert.
34
Zitternd fahre ich mit der Hand an den Mund. Ich nähere mich dem Frisiertisch, auf dem ein seltsamer Stoff haufen liegt. Ich atme langsam aus und gehe noch etwas näher heran und erschrecke fast bei meinem eigenen Anblick im Spiegel: Das Wort SCHLAMPE schneidet quer durch mein Gesicht und lässt mich aussehen, als würde ich bluten.
Ich schaue hinab auf den Stoff - die hellrosa Farbe, der weiche Fleecestoff und die kleinen Bändchen. Es ist der Schlafanzug, den er mir gekauft hat. Er ist wie mit einem Messer in Millionen von kleinen Schnipseln zerfetzt.
Mein Blick wandert hinüber in die andere Ecke des Raumes, wo ich die Schachtel und die Verpackung aufbewahrt habe. Es ist alles aufgerissen, und die Karte und das Seidenpapier liegen zerknüllt auf dem Fußboden.
Noch immer zitternd, lasse ich den Rasierer fallen und schließe die Augen und halte mir die Ohren zu. Ich spüre, wie ich ein- und ausatme, um mich zu beruhigen, obwohl ich mit jeder Faser meines Körpers losschreien möchte.
Ich gehe ein paar Schritte rückwärts auf dem Weg nach
draußen. Aus den Augenwinkeln behalte ich die Tür meines Wandschranks im Auge, die noch immer
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