Toedliches Geheimnis
spüren, dass ich mich damals in der zweiten Klasse verlaufen habe. Weißt du noch... in der Pause auf dem Spielplatz?«
»Willst du mich verarschen oder was?« Sie verdreht die Augen. »Alle in der Schule wussten, dass du dich verlaufen hattest - sie haben es ja über Lautsprecher bekannt gegeben. Und du glaubst, es wäre unmöglich für ihn, das herauszubekommen? Wir leben in einer Kleinstadt, Camelia. Die Leute reden.«
Ich hole tief Luft, mir dreht sich der Kopf. Es fühlt sich an, als hätte ich einen Tritt in die Magengrube bekommen.
»Sieh mal«, fährt sie fort und kommt einen Schritt näher, um mir in die Augen sehen zu können. »Ich sage das jetzt nur ein Mal: Ich traue Ben nicht. Ich traue den Geschichten nicht, die er dir erzählt hat. Und es traut ihm auch sonst keiner. Ein Mädchen ist schon tot, eine andere liegt im Koma. Was wird mit dir passieren?«
»Ich weiß es nicht«, flüstere ich und spüre, wie sich meine Augen mit Tränen füllen, weil ich plötzlich mehr Angst habe als je zuvor.
»Du musst mit der Polizei reden«, verlangt sie und reicht mir ein Taschentuch aus ihrem Ausschnitt. »Hast du es schon deinen Eltern erzählt?«
»Das ist nicht so einfach.«
»Natürlich nicht.« Wieder verdreht sie die Augen.
»Nein«, sage ich und tupfe mir die Augen mit dem Taschentuch. »Du verstehst nicht, was ich meine. Ich werde heute Abend mit meinem Vater reden.«
»Gut, wenn du es nicht tust, dann werde ich es tun - das verspreche ich dir. Du hast noch Zeit bis heute Abend um acht, es ihm zu verklickern.«
»Kimmie, es tut mir leid.«
»Ich weiß«, sagt sie und zeigt wenigstens ein kleines bisschen Nachsicht. »Wenn es nach mir ginge, dann sollten alle Jungs den Warnhinweis tragen: Übermäßiger Genus kann zu irrationalem Verhalten, eingeschränkter Urteilsfähigkeit und Entfremdung von den besten Freunden führen .« Und damit macht sie auf dem Absatz kehrt und geht in Richtung Klassenzimmer. Der Zickzacksaum ihres Babydoll-Kleides wippt mit vornehmer Exaktheit und macht mir wieder einmal deutlich, wie begabt sie ist.
Und wie total neben der Spur ich gewesen bin.
46
Ich bin heute zur Beratungslehrerin gerufen worden. Ms Beady tat so, als wäre es nur ein Routine-Gespräch, aber dann hat sie angefangen zu bohren und mich gefragt, ob alles in Ordnung sei, ob ich einen Freund hätte, ob ich mich hier in der Schule sicher fühlte.
Ich hab ihr aber nichts verraten, obwohl ein Teil von mir das gerne getan hätte. Ein Teil von mir wäre gerne alles losgeworden, einfach um die Last von meinen Schultern zu nehmen.
Angeblich ist Ben heute zur Schule gekommen, aber er war kaum von seinem Motorrad abgestiegen, als ein paar Jungs über ihn hergefallen sind. Es ist alles nicht ganz klar, wer die eigentlichen Schuldigen sind, aber er hat anscheinend eine geplatzte Lippe und ein blaues Auge davongetragen. Das Sekretariat hat bei seiner Tante angerufen, und er wurde für heute nach Hause geschickt, aber sie scheinen, ehrlich gesagt, nicht allzu besorgt um sein Wohlergehen zu sein. Die Hauptsorge gilt momentan der armen Debbie.
Und mir Armen.
Lehrer, die mich noch nie unterrichtet haben, Schüler, mit denen ich noch nie gesprochen habe - alle haben heute keine Mühen gescheut, mir ein offenes Ohr zu leihen. Und so habe ich mich den ganzen Tag lang, mit jedem Seitenblick in meine Richtung und jedem Wort der Warnung immer mehr gefragt, ob ich so bin wie eins von diesen affigen Girls in irgendwelchen Horrorfilmen - das Mädchen, das immer wieder in ihren Stöckelschuhen umknickt, während es versucht, vor seinem Verfolger zu fliehen.
Aber so bin ich nicht. Ich lasse mich von meinem Instinkt leiten - von der winzigen Stimme in mir, die mir sagt, dass ich Ben vertrauen und auf ihn hören kann und dass er mir nur weggenommen wird, wenn ich in der Schule erzähle, was passiert ist. Und ich muss jetzt erst einmal dringend mit ihm reden.
Nach der Schule stehe ich vor seinem Haus auf der anderen Straßenseite, nachdem ich von der Bushaltestelle hierhergelaufen bin.
Sein Motorrad steht in der Auffahrt. Ich überquere die Straße, um es mir anzuschauen. Ich suche nach Kratzern, Dellen oder abgeplatztem Lack - nach irgendetwas, das mir verraten könnte, ob er gestern Nacht in einen Unfall verwickelt war oder nicht. Aber abgesehen von einem etwa 15 Zentimeter langen Kratzer auf dem Benzintank, scheint das Motorrad vollkommen in Ordnung zu sein.
Kurz darauf höre ich ein quietschendes Geräusch von
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