Tödliches Paradies
Farbe ihrer Augen … Und in einem solchen Prachtstück soll sie durch die Gegend gerannt sein, um in irgendeine Schlucht zu stolpern? Papperlapapp! Unsinn ist das doch! Mumpitz …! Baloney, wie mein amerikanischer Onkel Jimmy immer sagte.«
»Baloney oder sonst was, was spielt das für eine Rolle?«
»Tim, hör doch! Tim, mein Lieber!« Helene Brandeis' Stimme fand zu ihrer alten Energie zurück. »Natürlich spielt es eine Rolle. Du darfst den Mut nicht sinken lassen. Du mußt daran glauben, daß alles gut geht. Und es wird gutgehen, verlaß dich drauf!«
»Sie haben gut reden.«
»Genau. Während du in dieser Teufelslage steckst … Aber meinst du, ich kann jetzt hier rumsitzen? Ich fühle mich für die ganze Geschichte verantwortlich. Wer hat euch denn nach Formentor geschickt? Ich doch! Ich werde jetzt dem Putzer sagen, er soll auf meine Katzenviecher aufpassen. Und dann trete ich in Aktion. Ich habe da nämlich so ein paar Leute, auf die ich mich verlassen kann. Und sobald ich irgend etwas rauskriege …«
»Von wo? Vom Tegernsee?«
»Laß mal, Doktor! Auch wenn's blöd klingt, aber ich kann dir das jetzt nicht erklären. Jedenfalls werde ich mir sofort ein Ticket bestellen, und wenn ich's schaffe, bin ich morgen in Formentor …«
Seltsam – die Aussicht, daß eine Zigarillo qualmende, verrücktgewordene Fünfundsiebzigjährige hier auftauchen wollte, konnte ihn nicht schrecken. Im Gegenteil …
»Aber das geht doch nicht.«
»Und ob das geht! Das geht schon deshalb, weil du mich jetzt brauchst, Tim. Und wenn du hundertmal sagst, was soll die alte Schachtel? Aber ich kenne nun mal Formentor. Und ich spreche Spanisch. Und ich werde die Typen dort schon auf Vordermann bringen. Ich werde dafür sorgen, daß alles so läuft, wie's laufen soll. Die Mallorquinier, Tim, ich weiß Bescheid: Liebe Leute, solange man sie nicht beim Schlafen stört … Und dann – kein Verlaß! Deshalb: Ich komme! Und du, Tim, laß dich bloß nicht in den Brunnen fallen. Halt die Ohren steif. Ich schick' dir ein Fax mit der Ankunftszeit ins Hotel.«
Ein Fax mit der Ankunftszeit …? Tim zündete sich eine Zigarette an, warf einen Blick auf die Mineralwasserflasche, die auf dem Tisch stand, und einen zweiten auf all die blaue Himmel- und Meerespracht dort draußen vor dem Fenster, ging zur Tür und nahm den Lift.
Am Empfang war ein weißer Karton von der Größe eines Schreibmaschinenblattes angebracht. »Verehrte Hotelgäste«, stand darauf, »Frau Melissa Tannert aus Deutschland, einer unserer Gäste, wird seit gestern nachmittag vermißt. Wer Frau Tannert gestern ab neunzehn Uhr gesehen hat, im Hotel selbst oder im Hotelgelände, wird gebeten, umgehend an der Rezeption Mitteilung zu machen.«
Und darunter Melissas Fotografie: Melissa in ihrem Korbstuhl, ein Buch in der Hand. Eine Melissa, die mit verträumten grünen Augen freundlich den Betrachter anblickt …
Tim beschleunigte seinen Schritt. Menschen begegneten ihm: Männer, Frauen, zwei, drei Kinder. Und alle braungebrannt, entspannt, in bunten Freizeitkleidern, mit den gelassenen Bewegungen, die zeigten, wieviel Zeit sie doch hatten.
Die Gesichter drehten sich nach ihm. Neugierde stand darin – und Mitleid.
Er hatte Mühe, nicht loszurennen. Dann war er auf dem Parkplatz, startete den roten Seat und steuerte Richtung Westen durch den Park zu der Straße, die über den Drachenkamm der Berge in die Bucht von Pollensa führte …
Die Terrassentür war aus Glas, Spezialglas, so unzerstörbar wie eine Stahlwand. Selbst Kugeln konnten sie nicht durchschlagen. Die Klinke aber war nur von außen zu öffnen.
»Funktioniert ganz einfach, mein Herz. Ein Knopfdruck genügt. Ich kann sie elektronisch verriegeln. Manchmal sind solche Vorsichtsmaßnahmen nun mal notwendig, weil Situationen eintreten können, wo man Menschen vor sich selbst schützen muß. Natürlich rede ich nicht von dir. Ich sagte ja: Ich hatte hier vor einem Jahr Patienten. Da wurde diese Einrichtung gebraucht. Du aber, um Himmels willen, du sollst dich nicht als Gefangene, nein, als Prinzessin, als Königin sollst du dich bei mir fühlen.«
Königin?! – Was sonst? Auch das war typisch. Und vielleicht war noch bezeichnender, daß er sich gar nicht der Hohlheit seiner Phrasen bewußt wurde. Fischer hatte schon immer in einer Welt gelebt, in der alles, was mit seinem geheiligten Ego zusammenhing, zu King-size-Format aufgebläht wurde. Es war seit damals viel Zeit vergangen, ziemlich viel, genügend
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