Tödliches Paradies
jedenfalls, um zu vergessen, wie geschwollen und hochtrabend er ständig daherschwafelte. Doch nun hatte Fred Fischer die Zeit angehalten. Schlimmer noch: Er versuchte sie zurückzudrehen, und verrückt, wie er nun einmal war, war er auch noch überzeugt, dies fertigzubringen. Verrückt ja … Auf welche Art – aber das war nicht ihr Problem. Wichtig war nur zu erkennen: Der Mann ist irre! Er hat dich eingesperrt in einen Alptraumkäfig, den nur ein krankes Hirn ersinnen kann.
Von der verschlossenen Tür glitt Melissas Blick wieder hoch zu den Holzpaneelen, vorbei an dem Lautsprecher zu dem gläsernen, dunkel schimmernden Zyklopenauge der Fernsehkamera.
Das Ding starrte zurück.
Sie stand auf, drehte sich um, strich am Bett entlang, vorsichtig Schritt für Schritt seitwärts setzend.
Das Auge bewegte sich nicht. Abgeschaltet?
Sie drehte sich um und blickte zur anderen Wand. Eine hübsche, alte, geschwungene Kommode stand dort, reich verziert mit Metallintarsien. Und daneben hing ein Spiegel. Vielleicht, daß er …? Es gab Spiegel, durch die man wie durch Glas sehen konnte? Ja, vielleicht, daß jemand dort dahinter saß und starrte. Ihr Nacken wurde heiß, selbst ihre Haut begann zu knistern bei diesem Gedanken. Mach dich bloß nicht verrückt! Bleib ruhig und benimm dich, als fändest du alles ganz normal. Und wichtiger noch: Denk jetzt ganz normal!
Die Klimaanlage im Zimmer fächelte angenehme Kühle über ihr Gesicht. Sie blickte auf die Uhr: Vierzehn Uhr zweiundzwanzig zeigten die Zeiger. ›Mo-26‹ stand auf der Datumsanzeige.
Montag, der sechsundzwanzigste …? Und gestern, als du zum Pavillon wolltest, war es Sonntag kurz nach sieben. Neunzehn Stunden also … Und sechzehn davon hast du in einer Art Tiefschlaf verbracht.
Aber die neunzehn Stunden?! –
Neunzehn Stunden, die für Tim die Hölle bedeutet haben mußten, neunzehn Stunden, in denen er sich jede Sekunde gefragt hatte: Was ist geschehen? Was ist mit Melissa?! – Lieber Himmel, sie kannte ihn doch … Die kleinste Kleinigkeit, die sie anging, konnte ihn in helle Aufregung versetzen. Wie oft hatte sie ihn ausgelacht, weil er sich ständig um sie Sorgen machte, ja, ausgelacht und heimliche Genugtuung und etwas wie Stolz dabei empfunden.
Aber jetzt? Was tat er?
Er hatte im Pavillon gewartet. Er saß dort oben mit seinen beiden Flaschen Champagner, während irgendeiner von Fischers Handlangern sie überfiel und ihr eine Injektion verpaßte, um sie dann zum Wagen zu schleppen. Tim aber wartete, mußte die ganze Nacht gewartet haben. Er hatte sicher längst die Polizei alarmiert, hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Er würde, mußte durchdrehen. Was würde er sich denken, was hatte er getan, was tut er jetzt?
Doch auch diese Überlegungen führten sie nicht weiter.
Und das Schlimmste war: Sie hatte nicht die geringste Möglichkeit, Tim eine Nachricht zukommen zu lassen.
Nein, es blieb ihr nur eines: Eisern die Nerven zu bewahren, sich jeden Schritt in Ruhe zu überlegen, Fischers Reaktionen zu studieren und jedes Detail wahrzunehmen, das ihr eine Chance bot. Und sei es nur die geringste …
Wie immer Melissa ihre Lage auch beurteilte, eines stand für sie fest: Fischer würde sie nicht lange in diesem Laborkäfig mit seinen Überwachungskameras und Spiegeln gefangenhalten.
Beobachten würde er sie weiter, und ähnliche Anlagen konnten überall im Haus installiert sein. Im Haus, ja – doch das Anwesen mit seinen Terrassen, den Nebengebäuden, den Gärten, Obstplantagen war riesig. Und was bedeutete das? Es mußten mehr Leute hier wohnen.
Madalena kannte sie bereits. Vor einer halben Stunde war sie mit einem riesigen Tablett hereingerauscht – und schon knackte oben der Lautsprecher, und Fischers Stimme meldete sich zum Kommentar: »Ein bißchen verspätet das Frühstück, mein Herz, aber laß es dir schmecken. Die Eier sind ganz frisch. Wir haben sogar Hühner auf Son Vent …«
Und die dicke, schweigsame Spanierin oder Mallorquinerin schien es für völlig normal zu halten, daß ihr Arbeitgeber mit seinem Gast per Mikrofon kommunizierte. Sie hatte das Tablett abgestellt, Teller und Besteck arrangiert und dabei Melissa nicht ein einziges Mal angesehen.
Gut, das war also Madalena. Dazu kam Madalenas Mann. Melissa hatte ihn vom Fenster aus beobachtet: Groß, breitschultrig, einen grauen Bart um das quadratische Gesicht. Etwa vierzig Jahre alt, sicher nicht älter. Die beiden spielten eine Art Verwalter- oder Haushälter-Ehepaar
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