Tödliches Paradies
abgeschaltet zu haben, nur die Fingerspitzen bewegten sich an dem gelähmten Körper wie welke Blätter an einem verdorrten Ast. Was dachte er? Sie kannte dieses jähe, lähmende Schweigen. Und fühlte etwas wie Mitleid. Er war verstümmelt, sah seinen Zustand wohl als eine Art heroischen Kampf gegen die Dinge, die ihm nicht mehr gehorchen wollten. Das Ausziehen, die Kleider, die Frage, wie kommst du vom Stuhl in dein Bett – die einfachsten, primitivsten Dinge, die der Körper verlangt, wie waren sie zu bewältigen? »Ich werde damit fertig. Fast ohne Hilfe. Aber was das heißt, das kann ich dir nicht sagen. Dabei habe ich das Heulen gelernt. Und den Haß …«
Dann hatte er geschwiegen. Wie jetzt. Langsam drehte er ihr sein Gesicht zu: »Du lebtest glücklich? Du hast einen netten Mann. Nett, bescheiden, tüchtig – eine Null mit einem Wort.«
Sie bemühte sich, keine Reaktion zu zeigen. Auch jetzt nicht. ›Spiel sein Spiel!‹
»Ich will nicht über ihn reden, Melissa. Er gehört nicht zu unserer Situation. Ich will dir etwas sagen: Du warst noch nie glücklich. Du weißt nicht, was Glück bedeuten kann. Das vollkommene Glück. Die Tage als Fest. Du wirst es mit mir erleben. Nicht lange vielleicht, eine Woche nur, aber eine Woche der Vollkommenheit!«
Es war warm draußen auf der Terrasse, nun spürte sie eine eisige Kühle im Nacken: eine Woche der Vollkommenheit?!
»Dann hat also Pons doch recht gehabt?« Tim sagte es mehr zu sich. Er sagte es, als er den Wagen wieder vom Restaurant zur Autostraße steuerte. »Pons tippte von Anfang an darauf, daß irgend jemand im Spiel sein könnte, den Melissa kennt.«
»Felix Pons?! Ja, gibt's den noch?«
Helene Brandeis' Augen blitzten, und der Fahrtwind spielte mit den in vornehmem Blaustich getönten Löckchen. »Pons, der alte Halunke! Ach … ich darf gar nicht zurückdenken. Felix Pons war nämlich Juans Chef. Der drückte nicht nur ein Auge, der drückte alles zu. Ist doch wirklich romantisch im Tee-Pavillon, was?«
Tim schwieg.
»Verzeihung«, sagte sie.
»Alle dachten irgendwie in dieselbe Richtung, nur ich nicht«, nahm Tim seinen Gedanken wieder auf. »Das ist das Verrückte. Selbst Rigo …«
»Rigo?«
»Der Chef der Guardia Civil Station in Pollensa. Ein richtiger spanischer Bulle. Auch der kam damit. ›Haben Sie keine Bekannten hier?‹ fragte er. ›Sie hat sicher irgend jemand getroffen, den sie von früher kennt. Oder haben Sie irgendwelche Feinde?‹ – Und ich Trottel schüttle ständig nur den Kopf.«
Flach war nun das Land. Und die Felssteinmauern glichen grauen Strichen vor einem ockerfarbenen Hintergrund. Stille, über der sich Hitze ausbreitete. Gehöfte, die in der Sonne dösten, Dörfer mit geschlossenen Fensterläden. Hunde, die im Schatten schliefen.
Tim drückte aufs Gas.
»Muß das denn sein. Nun fahr nicht so schnell.«
Der Fahrtwind wirbelte den Hut der alten Dame vom Sitz zur Heckscheibe hoch.
»Langsamer, Herrgott nochmal! Wir kommen schon an.«
»Wo …?«
»Na, wo schon … Son Vent heißt das Haus, in dem er wohnt. Ein Landgut. Ziemlich groß wurde mir gesagt. Liegt zwischen Capdepera und Cala Ratjada.«
»Und du meinst wirklich …«
»Hör mal, Tim, das Wort meinen mag ich immer weniger. Nützt nichts. Wir sollten hinfahren und gucken. Und zuvor melden wir uns am besten bei der Guardia Civil.«
Er nickte – und wunderte sich aus vollem dankbaren Herzen: Helene Brandeis. Was für eine Frau, was für ein Mensch! Sie war sicher müde, hatte vielleicht noch nicht mal was zu Mittag gegessen, weil sie diesen Plastikfraß im Flugzeug so haßte. Dazu kamen die Hitze und die Schmerzen in ihrem Hüftgelenk, über die sie zwar nie redete, die sie aber stets begleiteten. Nein, nichts von: »Laß uns bloß ins Hotel, ich will mich mal 'n bißchen hinlegen.« Capdepera mußte es sein! Son Vent – Fischers Versteck.
»Und wer sagt dir, daß Fischer uns überhaupt reinläßt. Oder daß er uns irgend etwas Vernünftiges sagt.«
»Niemand, Tim. Niemand sagt mir ja auch, ob Melissa dort ist. Eine Annahme. Mehr nicht.«
Nun fuhr er doch langsamer, fuhr mit dem Gefühl, als nehme ihm jemand die Luft zum Atmen. Eine Annahme? Ja was denn sonst? Gehörte nicht auch zu der ›Annahme‹, daß Melissa ihn verlassen hatte? Daß sie, während er dort oben in dem dämlichen Pavillon stand, eine Flasche Champagner in der Hand und den ganzen sentimentalen Hochzeitskitsch im Herzen, mit einem anderen verschwand?
Verrückt ist das!
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