Toedliches Verlangen
Dezembertag erinnerte.
Aber es war mehr als die bloße Gewalt, die sie nicht losließ. Es waren die kleinen Dinge – all die Grundsätze des guten Benehmens, auf denen ihre Mutter beharrt hatte, die ihr das Leben schwer machten. Sicher, es waren gute Lebensregeln, aber …
Sie vermisste ihre Mutter.
Vermisste ihr Lachen und ihre freigiebige Art. Vermisste ihre verrückten Bohemien-Ideen und ihre Weisheit. Vermisste auch die endlosen Predigten: über Respekt, über Ehrlichkeit, darüber, andere zu behandeln, wie man selbst behandelt werden wollte.
Hey. Diese Lektion hatte Bastian wohl verpasst.
Als Myst an einem riesigen Gemälde einer Kampfszene vorbeiging – irgendetwas Napoleonisches, den ganzen sich aufbäumenden Pferden und roten Röcken mit Messingknöpfen nach zu urteilen –, vernahm sie endlich, worauf sie gelauscht hatte …
Ihren Engel. Und Mannomann, er klang ziemlich unzufrieden.
Genauso wie die Männerstimmen, die man hören konnte, wenn der Kleine kurz innehielt, um Luft zu holen.
Myst blieb im Flur stehen. So schrecklich sie es auch fand, ihn weinen zu hören, sie brauchte einen Moment, um sich zu fassen. Völlig außer sich dort hineinzustürmen würde ihr nicht helfen, ihm nicht … niemandem. Wenn sie auch nur den Hauch von Schwäche zeigte, würde Bastian sie in der Luft zerreißen, und sie käme ihrem Ziel kein Stück näher.
Myst straffte die Schultern, legte eine entschlossene Miene auf, holte tief Luft und trat um die Ecke.
Die Flip-Flops wie festgeklebt am Kalksteinboden, blieb sie stocksteif stehen. Ihr Blick verharrte auf der …
Der Killer-Armee in der Küche.
Okay. Vielleicht keine Armee, aber … Jesus. Die vier Typen, die um die Kücheninsel saßen, waren riesig, muskelbepackt und sahen brutal aus. Und alle starrten sie an. Während vier Augenpaare sich zusammenzogen, fühlte Myst, wie sie das ihre aufriss. Sie trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Schutz suchende Geste, die ihre Schwäche verriet, das wusste sie. Aber sie konnte nicht anders. Das Aggressionspotenzial dieser Kerle übertraf alles, was sie je wahrgenommen hatte.
Ihr Herz schlug ihr mittlerweile bis in die Kehle, was das Schlucken erheblich erschwerte. »Äh, sorry, aber ich bin auf der Suche nach …«
» Bellmia. « Das tiefe Timbre von Bastians Stimme floss durch den Raum wie Honig, umhüllte sie mit Wärme und süßer Sicherheit.
Myst ließ sich von ihr tragen, atmete zitternd aus und wandte sich der Stimme zu. Sie musste ihn sehen, denn sehen hieß glauben, und ganz gleich, wie groß die Kluft zwischen ihnen war, sie vertraute darauf, dass er sie vor der Biker-Gang beschützte, die mit ihren Blicken Hackfleisch aus ihr machte.
Er lächelte, als er ihrem Blick begegnete, und all die Peinlichkeit, die Myst erwartet hatte, löste sich auf wunderbare Weise in Luft auf. Die ganze Dusch-Geschichte war nicht weiter schlimm. Er hatte sie nicht ausgenutzt. Sie wusste es, ohne zu fragen. Das Bedürfnis, sich um sie zu kümmern, stand ihm ins Gesicht geschrieben, brannte in seinen Augen – und aus irgendeinem Grund war das alles, was entscheidend war.
Bastian lehnte an der Theke, sah sie noch einen Moment länger an und stieß sich dann von der Arbeitsplatte ab.
Ohne es zu wollen, hauchte sie: »Hey.«
»Hey«, sagte er, wiederholte ihren Gruß in Wort und Bedeutung.
Es war mehr als ein Na-wie-geht’s-Hey. Es war ein bedeutungsschweres Hey, als sprächen sie eine Sprache, die kein anderer verstand. Was Myst mehr Angst einjagte, als wenn eine Gruppe Terroristen vor ihr aufgetaucht wäre … mit Raketenwerfern im Anschlag.
Sie rieb sich über die Oberarme und sah zu, wie Bastian sanft den Hinterkopf des Babys umfasste und ihm den Nacken stützte, als er seinen Griff veränderte. In eine blaue Decke gehüllt, stieß ihr kleiner Engel einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Die Typen an der Kücheninsel zuckten zusammen und rutschten ein Stück auf ihren Stühlen zurück.
Auch Bastian schnitt eine Grimasse und tätschelte dem Kleinen den Po, zweifellos in der Hoffnung, ihn zu beruhigen. »Auf der Suche nach dem hier?«
»Ja. Und nach dir. Wir müssen uns unterhalten. Über …« Myst hielt inne und warf ihrem Publikum einen kurzen Blick zu, das sie jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtete. Als wären sie und Bastian die heißeste Story des Jahrhunderts. »Ähm …«
»Komm und nimm ihn, okay?« Bastian ging eilig um die massive Kücheninsel herum und lief zu ihr
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