Tödliches Vermächtnis - Lethal Legacy
heißen, Mike?«, fragte Jill.
»Ich wusste nicht einmal, dass sie Namen haben.«
»Bürgermeister LaGuardia taufte sie während der Weltwirtschaftskrise auf die Namen Patience und Fortitude - Geduld und Standhaftigkeit. Eigenschaften, die die New Yorker seiner Meinung nach brauchten, um die Entbehrungen der damaligen Zeit zu ertragen.«
»Sie werden uns auch diese Woche gute Dienste leisten«, sagte Mercer.
Mercer war so ruhig und ausgeglichen wie immer.
Er wusste, dass wir uns immer tiefer in ein Dickicht von Personen und Motiven hineinbegaben und es mit einer Verkettung von Verbrechen zu tun hatten, die man nicht so schnell aufklären würde, wie Mike es sich erhoffte. Mike hingegen fehlte es nicht an Standhaftigkeit, aber, wie üblich, an Geduld.
Während wir die Stufen hinaufgingen, bewunderte ich die prächtigen Skulpturen und Reliefs über dem mächtigen Säulengang der Bibliothek - Sphinxe, geflügelte Pferde, allegorische Gestalten und literarische Inschriften. Oben gingen wir durch einen der Bögen und warteten an der Tür.
Mike holte ein paar zusammengefaltete Blätter aus seiner Jackentasche. »Das ist eine Kopie des Bestellscheins, den Tina zum Zeitpunkt ihres Todes in der Tasche hatte«, sagte er. »Ich hatte ihn ja bereits am Telefon erwähnt.«
Jill Gibson las die Angaben auf dem ersten Blatt - Tinas Name, Bestelldatum, Werktitel. Auf dem zweiten Blatt stand das unvollständige Zitat, das auf der Rückseite des Bestellscheins notiert war.
Jill sah sich die beiden Blätter gerade noch einmal an, als die riesige Tür aus Holz und Glas von innen entriegelt und geöffnet wurde.
»Das ist nicht Tinas Schrift«, sagte Jill. »Dieser Bestellschein wurde von einer anderen Person auf ihren Namen ausgestellt.«
»Von einer der Bibliothekarinnen vielleicht?«
»Sie haben doch das Original gesehen, Mike. War es mit Bleistift oder Kugelschreiber ausgefüllt?«
»Der Name und der Buchtitel auf der Vorderseite sind mit Kugelschreiber geschrieben, der Text auf der Rückseite mit Bleistift. Sehen Sie, wie schwach er auf der Kopie zu erkennen ist?«
»Im Lesesaal sind Kugelschreiber verboten. Das gilt für die meisten Forschungsbibliotheken. Es dürfen nur Bleistifte benutzt werden.« Jills Hand zitterte, als sie den Zettel einmal faltete. »Ich kenne Tinas Handschrift gut, Detective. Sie hat eine sehr eigenwillige Schrift, egal ob Schreib- oder Druckschrift. Tina hat diesen Bestellschein nicht ausgefüllt. Und sicherlich auch kein Bibliothekar. Nicht mit Kugelschreiber.«
Mike nahm die Kopien wieder an sich und verglich die beiden Schriften. Ich wusste, was er dachte. Wir würden einen Gutachter hinzuziehen müssen, der sich auf dem sehr unwissenschaftlichen Gebiet der Handschriftenanalyse auskannte. Ein Anhaltspunkt, den wir um zwei Uhr nachts noch für vielversprechend gehalten hatten, machte die Sache jetzt nur komplizierter.
»Das zweite Blatt - das Zitat auf der Rückseite - das ist Tinas Schrift«, sagte Jill. »Aber das Formular hat sie nicht ausgefüllt. Wir haben mehrere frühe Ausgaben dieses Werks von Lewis Carroll, die alle sehr selten sind. Vielleicht wollte jemand eins dieser Bücher auf ihren Namen zur Ansicht bestellen.«
Vielleicht eine Person, die nicht mit der Bestellung in Verbindung gebracht werden wollte und sicher war, dass sie Tina überreden konnte, das Buch für sie zu bestellen und in Empfang zu nehmen. Vielleicht der Mörder.
18
»Wo sind denn die Bücher?«, fragte Mike. »Ich sehe hier drinnen kein einziges Buch.«
Mike, Mercer und ich standen in der Mitte der Astor Hall, einem der prächtigsten Interieurs von New York. Jill hatte sich auf die Suche nach dem Sicherheitschef gemacht, weil sie ihn bitten wollte, uns das Gebäude zu zeigen.
»Das hier ist keine Leihbücherei, Mike, sondern eine Forschungsbibliothek«, sagte ich. »Man muss jedes Buch bestellen. Die Bücher sind nicht frei zugänglich und verlassen nie das Gebäude.«
»Außer sie werden geklaut. Also, wo zum Teufel sind sie?«
»Oben, in den sorgfältig gepflegten Privatsammlungen«, sagte ich. »Und unter deinen Füßen, im Magazin. Du wirst sie schon noch sehen.«
Mercer wanderte in dem hohen Raum umher. »Ich komme mir vor wie in einem mittelalterlichen Schloss.«
Die große, ganz mit weißem Marmor ausgekleidete Halle hatte ein frei tragendes Deckengewölbe zwischen den beiden breiten Treppen, die in den ersten Stock hinaufführten. Vier riesige Kandelaber - ebenfalls aus Marmor - hielten Wache
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