Toedliches Versprechen
vorgehabt, sich Nadine schon zu offenbaren. Es wäre ihm lieber gewesen, sie noch eine Weile zu beobachten und zu verfolgen, ohne dass sie etwas davon bemerkte.
Er hätte ihr gern noch das eine oder andere Unbehagen bereitet. Andererseits war alles vorbereitet. Ihr Abstieg begann. Es war fantastisch, der erste Dominostein zu sein und die Ereignisse ins Rollen zu bringen.
Er konnte noch den Schock in ihren Augen sehen, spürte die Sekunde, in der sie begriff, dass er hier war. In Boston, ihrer Stadt, wo sie sich sicher fühlte.
Dann war der Schock in Verzweiflung und Panik umgeschlagen. Ihr Verstand sagte ihr, er konnte unmöglich hier sein. Er saß in Kalifornien im Knast eine lebenslange Haftstrafe ab. Trotzdem hatte ihr Körper eine gehetzte Haltung angenommen. Sie schaltete auf Fluchtmodus. Wie damals. »Keine Angst, Nadine Montgomery«, murmelte er. »Du wirst mir nicht entkommen. Diesmal nicht.«
*
Hannah versuchte, ihren Atem zu beruhigen, während sie ihr Handy ans Ohr hielt. Es klingelte. Vierzehn Mal. Fünfzehn Mal. Endlich wurde abgehoben. »Styles«, meldete sich eine raue Männerstimme, die klang, als wäre ihr Besitzer gerannt, um den Anruf noch entgegenzunehmen.
»Detective Styles, hier spricht Hannah Montgomery .«
»Miss Montgomery .« Seine Stimme nahm einen überraschten Ton an. Sie konnte hören, wie er sich schwer in seinen Schreibtischsessel fallen ließ. Wahrscheinlich rauchte er immer noch zwei Schachteln Zigaretten am Tag. »Wie geht es Ihnen?«
»Wie es mir geht?« Ihre Stimme überschlug sich hysterisch und sie holte tief Luft. »Sitzt Griffin Gordon noch im Gefängnis?«
Der Polizist am anderen Ende der Leitung seufzte. Sie konnte praktisch sehen, wie er sich durch das schüttere Haar fuhr. »Nein, Miss Montgomery, er sitzt nicht mehr im Gefängnis. Er wurde vor ein paar Monaten von Cocoran nach Folsom verlegt. Von dort ist er vor einigen Wochen geflüchtet. Er hat mehrere Menschen auf dem Gewissen. Aber ich weiß all das auch nur aus der Zeitung. Der Fall liegt nicht in meinem Zuständigkeitsbereich.«
»Und Sie hielten es nicht für nötig, mich von seinem Ausbruch zu unterrichten?« Ihre Stimme überschlug sich ein weiteres Mal. Eine Krankenschwester, die die Klinik betrat, warf ihr einen seltsamen Blick zu. Hannah wartete, bis sie im Fahrstuhl verschwunden war, und lehnte ihre heiße Stirn an die Wand. »Entschuldigen Sie, Detective. Ich bin außer mir. Ich habe ihn gesehen, hier, in Boston.«
»Das ist äußerst unwahrscheinlich, Miss Montgomery«, sagte der Polizist. »Er weiß nichts von Ihnen. Er weiß nicht, dass Sie existieren, geschweige denn, wo Sie leben.«
»Glauben Sie mir. Er weiß es. Er ist hier.« Ihre Stimme war mittlerweile zu einem verzweifelten Flüstern gesunken. Fast so, als könnte Gordon sie hören, wenn sie lauter sprach.
»Sie haben sich getäuscht und jemanden gesehen, der ihm ähnelt. Beruhigen Sie sich.«
»Ich beruhige mich überhaupt nicht«, zischte sie ins Telefon. »Er ist hier. Das kann ich Ihnen garantieren. Es beginnt alles wieder von vorn. Wie vor elf Jahren.«
Der Detective seufzte noch einmal. »Ich kann Ihnen wirklich nicht helfen, Miss Montgomery. Die Polizei von Kalifornien geht davon aus, dass Gordon versucht, über die Grenze nach Mexiko zu verschwinden, falls er das nicht längst getan hat. Er ist nicht auf dem Weg Richtung Ostküste. Die ermittelnden Kollegen haben eine Hotline für Hinweise geschaltet. Am besten, Sie melden sich dort. Die ermittelnde Beamtin heißt McTavish.«
Hannah legte zum zweiten Mal an diesem Morgen auf, ohne sich zu verabschieden. Wie konnte Gordon nur aus dem Gefängnis ausbrechen, ohne dass jemand sie warnte? Auf wackligen Beinen machte sie sich auf den Weg ins Ärztezimmer.
Kaum war sie in ihre Dienstkluft geschlüpft, wurde der erste Notfall für sie eingeliefert. Ein Patient reihte sich an den nächsten und beschäftigte sie bis in die Mittagszeit. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren und auf ihre Patienten einzugehen, wie sie es sonst tat. Ständig glitt ihr Blick zum Eingang der Notaufnahme. Ihre Augen scannten die Gesichter der Patienten.
Griffin Gordon war frei. Und er war in Boston.
Es war unmöglich, diese Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben.
Als sie endlich Zeit für eine Pause fand, setzte sie sich an ihren PC. Sie las im Internet von den grausamen Morden, die mit Gordons Flucht in Verbindung standen. Der Kaffee stieg sauer in ihrer Speiseröhre nach oben. Ihre
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