Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
Doch ganz gleich, ob Shanshan betroffen war oder nicht, Chen hatte Blut geleckt. Die Innere Sicherheit hätte sich vermutlich nicht in einen einfachen Mordfall eingemischt, selbst wenn Liu als bedeutender Bürger der Stadt Wuxi galt.
»Ich bin froh, dass Ihnen nichts zugestoßen ist – bis auf den falschen Alarm. Trotzdem brauchen Sie jetzt eine Entspannungspause, Shanshan.«
»Wer weiß schon, was falsch ist und was nicht. Ich habe mir den Tag freigenommen.«
»Recht so «, unterbrach er sie. »Wie wär’s mit einer Exkursion um den See?«
»Sind wir nicht erst vorgestern am See entlangspaziert, Herr Chen?«
» Ach, hätten wir nur Gelegenheit genug und Zeit … «, entgegnete er.
»Was reden Sie da?«
»Ein Zitat von Andrew Marvell«, sagte er. »Meine Ferien hier dauern nur eine Woche. Und wo Sie heute zufällig freihaben …«
»Ich bewundere Ihre Überredungskunst.«
»Wir werden etwas zur Schockbewältigung tun.«
»Schockbewältigung?«
»Etwas Unterhaltsames, das Sie von der unangenehmen Erfahrung ablenkt. Wissen Sie was? Ich habe bis jetzt noch keine Bootsfahrt unternommen. Lassen Sie uns in einer Gondel übers Wasser gleiten, nur Sie und ich.«
»Was für ein romantischer Tourist Sie sind…« Gleich darauf fragte sie: »Wo sollen wir uns treffen?«
»Wie wär’s mit der Schildkrötenstatue im Park? Ich warte dort auf Sie.«
Kurze Zeit später stand er unterhalb der Statue, an den knorrigen Stamm eines alten Baumes gelehnt. Der Park bot wahrhaft herrliche Ausblicke; die Sonne stand über dem geschwungenen Dachfirst eines alten Pavillons am See, und das Wasser wirkte wie vergoldet von ihrem Widerschein. Eine Formation weißer Enten patrouillierte am nahen Ufer. Er freute sich auf den Tag, den er hier verbringen würde – in ihrer Gesellschaft.
Wieder wanderte sein Blick hinüber zur Anlegestelle, wo es ebenso laut und lebhaft zuging wie neulich. Einer der großen Ausflugsdampfer legte gerade ab. An der weißen Reling des Oberdecks lehnte ein junges Paar, es teilte sich eine Eistüte und knabberte selig lächelnd daran, als hielte es die Welt in Händen.
Dann sah er sie durch ein Tor herankommen, das die Form eines Flaschenkürbis hatte. Leichtfüßig bewegte sie sich über den Rasen, auf dem die Schatten eines Buchsbaums spielten. In ihrem Nylonnetz hatte sie wie üblich eine Wasserflasche dabei. Über einem weißen, trägerlosen Kleid und passenden hochhackigen Schuhen trug sie einen roten Sommermantel aus leichtem Stoff.
Befriedigt stellte er fest, dass sie sich für ihn fein gemacht hatte. Schon Konfuzius wusste: Eine Frau schmückt sich für den Mann, der sie liebt. Das war keineswegs frauenfeindlich gemeint, sondern allein eine Frage des Blickwinkels.
»Auf dem See kann es recht windig sein«, sagte sie zur Erklärung und strahlte ihn an. Sie gaben sich die Hand, ihre Finger fühlten sich wunderbar weich an.
Ein Wasservogel flog flatternd auf und verschwand in die blaue Ferne.
Sie spazierten eine Weile am Ufer entlang, bis sie ein passendes Boot gefunden hatten. Die meisten Touristen bevorzugten die großen, komfortablen Ausflugsdampfer oder Schnellboote, die auf dem neuesten Stand der Technik waren und mit denen man schon für zehn Yuan eine Rundfahrt machen konnte.
Sie entschieden sich hingegen für einen mittelgroßen Sampan mit einem Verdeck aus geölter Leinwand. Darunter lagen Sitzpolster aus blauem Indigostoff, zwischen denen ein kleines Bambustischchen stand. Das Schiff war zwar nicht so authentisch, wie er gehofft hatte, aber immerhin gemütlicher als die anderen. Die Kajüte bot Raum für vier Fahrgäste, aber es waren keine weiteren Interessenten in Sicht.
Als Chen anbot, den gesamten Fahrpreis zu übernehmen und das Boot allein zu mieten, war der Bootsführer, ein launiger Mittfünfziger mit wettergegerbtem Gesicht, sofort einverstanden. In seinen Augen blitzte der Schalk, als er das Boot vom Ufer abstieß und ihm vom Heck aus zurief:
»Was sind Sie für ein Glückspilz. Mit einer so hübschen Freundin einen romantischen Frühlingstag in einem Boot zu verbringen, das ist sein Geld wert.«
Chen lächelte kommentarlos, während er Shanshan gegenüber Platz nahm. Sie legte die Handflächen auf das Tischchen und sah ihn an. In ihrem Blick lag ein geheimnisvolles Leuchten, das schwer zu deuten war. In der klassischen chinesischen Literatur gab es dafür einen feststehenden Ausdruck; man sprach von den »Herbstwellen«, die in den Augen der Schönen brandeten.
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